Lässt sich Verwaltungsvergessen mit Automation verhindern

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31.10.2024
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7 min Lesedauer
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Die deutsche Verwaltung geht in den Ruhestand. Nicht alle, und nicht alle auf einmal, aber etwa 30% des Personals in den nächsten 10 Jahren. Viele dieser BeamtInnen nehmen wertvolles Wissen mit in den Ruhestand, denn viele der Prozesse in der deutschen Verwaltung werden noch analog bearbeitet. Wertvolles Know-how zum Prozess ist weder dokumentiert noch in Software abgebildet.

Passend dazu haben wir mit Keyan schon darüber gesprochen, wie es um die Digitalisierung der Verwaltung steht und inwieweit KI unterstützen könnte. Jetzt wollen wir wissen, ob die neuen Möglichkeiten der Automatisierung, mit Unterstützung der künstlichen Intelligenz, uns im Kampf gegen das Verwaltungsvergessen helfen können.

cloudahead Keyan

Zur Person

Dr. Keyan Ghazi-Zahedi ist Informatiker mit einem langjährigen Schwerpunkt auf künstlicher Intelligenz. Nach Stationen beim Fraunhofer IAIS und am Max-Planck-Institut ist der Principal Specialist seit 2019 bei der PD GmbH tätig. Nebenbei ist er externes Mitglied am Center on Narrative, Disinformation and Strategic Influence der Arizona State University und veröffentlicht regelmäßig in Fachzeitschriften zu KI und Desinformation.

Jockel: Was ist das Verwaltungsvergessen und ist es wirklich so schlimm?

Keyan: Vorneweg, der Begriff Verwaltungsvergessen kommt nicht von mir, sondern von jemandem aus der Kommunalverwaltung. Es geht darum, dass wenn jemand seinen Job verlässt, altersbedingt oder wegen eines Stellenwechsels, die nachfolgende Person mit einem 15-Meter-Aktenschrank konfrontiert wird. Also 15 Meter Papierakten in denen viel Wissen über die Arbeit dieser Person steckt. Prozesse, Entscheidungen, Richtlinien und anderes, was man für die tägliche Arbeit braucht. Aber das liest keiner, der neu anfängt. Dafür hat in der Regel niemand Zeit. Was da drin steht, wird vergessen und, obwohl es verschriftlicht wurde, leider nicht genutzt.

Ist das wirklich so schlimm? Ich komme nicht aus der Verwaltung und habe die Aktenberge nicht gesehen, aber ich höre von vielen Leuten aus vielen verschiedenen Verwaltungen, dass es sich tatsächlich um ein Problem handelt. Wenn man dazu noch den demografischen Wandel berücksichtigt, sieht, dass in den nächsten 10 Jahren etwa 30-50% der Mitarbeitenden in Pension gehen und einige Stellen nicht nachbesetzt werden, kann man annehmen, dass die Verwaltung nach der Pensionierungswelle weniger weiß als vorher. Also wird es, wenn wir nichts ändern, ein Verwaltungsvergessen geben.

"Durch den Bearbeitungsstau entstehen Umsetzungsdefizite bei der Gesetzesanwendung."

Jockel: Wie löst die Verwaltung das Problem denn aktuell?

Keyan: Wenn eine Stelle wegen Ruhestand neu besetzt wird, bekommt der Nachfolger seine Verfahrensanweisungen, eine Menge Akten und wahrscheinlich alte Fälle übergeben. Damit muss er irgendwie klarkommen. Wenn überhaupt jemand nachkommt, denn: es wird ja nicht 1-zu-1 nachbesetzt. Das frühere Modell mit einer Übergangsphase, bei der die ältere Person die jüngere an die Hand nimmt, das gibt es dann möglicherweise nicht mehr.

Natürlich gibt es immer häufiger E-Akten, also Papierakten werden eingescannt und digital verfügbar gemacht. Aber wenn nur der Papierberg digitalisiert wird, dann ist dieser zwar durchsuchbar, aber nicht unbedingt nutzbar. Den NachfolgerInnen werden somit spezifisches Behördenwissen zu Vorgehen und Prozessen fehlen. Die Fragen sind: Wie laufen die Prozesse? Was muss ich wann und wie bearbeiten, um zu einer Entscheidung zu kommen oder einen Antrag zu genehmigen? Es geht also nicht nur um die Digitalisierung, sondern auch darum, das bestehende Wissen durchsuch- und nutzbar zu machen.

Vielen, mit denen ich gesprochen habe, würde es zum Beispiel sehr helfen, wenn man einen neuen Fall digital mit bisherigen Fällen vergleichen könnte. Daraus könnte man etwa ableiten, warum welche Entscheidungen getroffen wurden. Das wiederum vereinfacht die dann zu treffende Entscheidung und hilft bei der Begründung. In einigen Fällen entstehen sogar Umsetzungsdefizite bei der Gesetzesanwendung, die vorhandenen Mitarbeitenden überlastet sind und offene Stellen nicht besetzt werden.

"Das Wissen geht im schlimmsten Fall mit in den Ruhestand."

Eine Extraktion des Wissens aus den Akten kann also sehr hilfreich für die Zukunft und für nachfolgende Mitarbeitende sein. Genauso wie die Arbeitsweise, die nicht richtig dokumentiert ist. Sie kann in jeder der über 100 Ausländerbehörden in Baden-Württemberg ein bisschen anders sein kann. Das steckt aber nur in den Köpfen der Menschen und in den Akten, die keiner liest.

Problematisch wird es zusätzlich, weil es in der Verwaltung viele Menschen im Alter zwischen 48 und 65 Jahren gibt, die in den Ruhestand gehen werden. Deren Arbeitsleistung und Erfahrung fällt weg und kann nicht im gleichen Maße ersetzt werden. Das heißt, dass das Wissen im schlimmsten Fall mit in den Ruhestand geht.

cloudahead Beschäftigte Im öffentichen Dienst
Anteil der Beschtigten im öffentlichen Dienst nach Alter

In unserem Whitepaper „Der Weg zur öffentlichen Hand von morgen“ haben wir die Herausforderungen der öffentlichen Verwaltung in den kommenden Jahren betrachtet. Dabei sind vor allem Sparmaßnahmen und sinkende Haushaltsmittel, steigende Anforderungen, auch in der Digitalisierung und ein wachsender Personalmangel zu nennen. Wir bei PD gehen davon aus, dass die Zahl der Beschäftigten in der Verwaltung bis zum Jahr 2040 um ca. 20 Prozent sinken wird. Mit den heutigen Strukturen und Arbeitsweisen wird die Verwaltung in Zukunft nicht mehr funktionieren. Der Handlungsdruck ist also enorm.

"Die Herausforderungen können wir nicht mit mehr Menschen lösen, es braucht ein Umdenken."

Jockel: Könnte Prozessautomation eine Lösung gegen das Verwaltungswissen sein?

Keyan: Es könnte ein Teil der Lösung sein. Das Problem ist aber, dass man aktuell nicht einfach automatisieren kann. Dafür fehlen digitalisierte Prozesse, und um diese zu erstellen, ist sehr viel manuelle Arbeit notwendig. Die Mitarbeitenden sind aber überlastet und haben entsprechend keine Zeit, ihre eigenen Prozesse zu digitalisieren. Zudem fehlt zur Automatisierung häufig noch eine Registermodernisierung. Also viele Punkte, die im Zweifel erstmal dagegen sprechen.

Zwar gibt es bereits digitale Prozessbeschreibungen wie FIM oder OZG, für viele Verfahren aber gibt es in dieser Form keine Datenbank. Prozesse, für die es nur Verwaltungsanweisungen, Gesetze, Erlasse und Erfahrungen gibt, die sich über Jahre entwickelt haben, müssen modelliert werden.

Der Gesetzgerber hat bereits 2017 die Grundlage für eine Automatisierung mit dem §35a im Verwaltungsverfahrensgesetz gelegt. Dadurch können alle Prozesse automatisiert werden, in denen kein Ermessensspielraum vorhanden ist. Wir müssen also in einen Zustand kommen, indem wir alles automatisiert haben, was wir automatisieren können.

Das Ziel sollte auf lange Sicht sein, dass Sachbearbeitende, die jetzt ein Teil des Prozesses sind, Eigentümer desselben werden. Das heißt: sie steuern und kontrollieren Prozesse, müssen aber die Vorgänge selbst nicht mehr bearbeiten. Wenn und dies gelänge, dann müsste keiner mehr Aktenberge durcharbeite. Die Fälle werden digitalisiert von Software bearbeitet, die sich gemäß gut dokumentierter Prozesslandkarten verhält, das Problem des Verwaltungsvergessens wäre größtenteils behoben. Die letzten Jahre haben uns gezeigt, dass in der Verwaltung eher mehr Aufgaben und vielleicht sogar komplexere Aufgaben gelöst werden müssen. Diese Herausforderungen können wir nicht mit mehr Menschen lösen, sondern es braucht daher ein Umdenken.

Jockel: Wie kommen wir vom jetzigen Status dahin?

Keyan: Es gibt einige Länder, die dabei schon weiter sind und nicht die Herausforderung der Größe Deutschlands und des Föderalismus haben. Aber wir können davon viel lernen und mit kleinen Gruppen anfangen. Der wichtigste Bestandteil für mich ist nach dem Digitalisieren der Akten das Digitalisieren der Prozesse ohne die Mitarbeitenden weiter zu überlasten.

Wir haben nicht die Zeit erst mit einer Implementierung zu beginnen, wenn alle Registermodernisierungen abgeschlossen sind. Es gibt viele Zwischenschritte, die bereits heute umgesetzt werden könnten und zu einer deutlichen Entlastung der Mitarbeitenden in der Verwaltung führen würden. Aber diese Zwischenlösungen müssen so konzipiert sein, dass sie umgestellt werden können, sobald die entsprechenden Register verfügbar sind.

"Die Frage ist, wie wir das Wissen strukturiert extrahiert bekommen."

Jockel: Welches Vorgehen schlägst du vor? Welche Rolle spielt dein Prototyp dabei?

Keyan: Meine Grundannahme ist: Es gibt viele Gesetzestexte, Verwaltungsanweisungen und Erlasse, das Wissen zu den Prozessen und Verfahren der BeamtInnen aber ist weitestgehend undokumentiert und in deren Köpfen. Wie also extrahieren wir das Know-how eines überlasteten Mitarbeitenden, ohne diesen noch stärker zu belasten? Vom klassischen Weg, über Beratungsfirmen zu gehen, sind viele WissensträgerInnen ohnehin genervt.

Unser Idee ist daher die folgende: Wir führen kurze Interviews mit allen relevanten Prozessbeteiligten und bitten sie, einfach zu erzählen, welche Aufgaben sie im Alltag auf welche Weise erledigen. Wir gehen davon aus, dass etwa 5 Sichten auf den gleichen Prozess ausreichen, um den harten Kern des Prozesses gut zu beschreiben.

Diese Information geben wir in ein KI-Sprachmodell (LLM) und lassen dieses daraus ein Prozessdiagramm erstellen. Das muss im ersten Schritt nicht perfekt sein, 80% Genauigkeit sind hinreichen. Korrektur und Verfeinerung sollen im Nachgang durch die Mitarbeitenden auf Basis des erstellten Prozessdiagramms erfolgen. Das geht in Summe viel schneller, als ein Diagramm auf einem leeren Blatt Papier zu zeichnen. Nach der menschlichen Korrektur ergibt sich dann einer sehr gute Dokumentation, welche wiederum die Basis für eine weitere Automatisierung sein kann.

"Wir suchen möglichst realitätsnahe Testdaten."

Jockel: Was fehlt Dir aktuell noch für eine unkomplizierte, KI-basierte Prozessdokumentation?

Keyan: Jetzt geht es uns vor allem darum, gute Testdatensätze und Testprozessbeschreibungen zu erhalten. Die öffentlich verfügbaren Datensätze für das Training aus der Industrie sind in der Regel englischsprachig. Wir möchten aber möglichst realitätsnahe Daten, idealerweise ergänzt um die aktuellen Prozessdokumentationen der Verwaltung. Damit könnten wir den Nachweis antreten, dass unsere Idee funktioniert, und jeder einzelnen Abteilung jeder Behörde helfen, ihr Wissen zu sichern.

Jockel: Keyan, vielen Dank für deine Zeit.

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