Kann Verwaltung wirtschaftlich denken?

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24.06.2024
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7 min Lesedauer
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Die freie Wirtschaft unterliegt den harten Gesetzen des freien Marktes: Wer kein solides Geschäftsmodell hat, bekommt keine Kredite von Banken. Wer keine Geschäftsidee mit Potential hat, bekommt kein Wagnis-Kapital. Wer seine Rechnungen nicht mehr zahlen kann, muss in die Insolvenz. Und das Unternehmen, das ineffizienter organisiert ist, verliert erst Kunden und Marge und endet entweder in der Insolvenz oder bei einer Unternehmensberatung zur Generalüberholung. 

Aber wie sieht es mit der deutschen Verwaltung aus? An welchem Maßstab muss diese sich messen lassen? Dazu habe ich den Politikwissenschaftler und Betriebswirt Patrick Brauckmann befragt.

cloudahead Patrick Brauckmann Lang

Zur Person

Patrick Brauckmann ist seit 15 Jahren als Berater im Public Sector tätig. Bei der EITCO verantwortet er als Director das Thema Digitale Transformation. Dabei ist ihm der "Kundennutzen" der öffentlichen Verwaltung ein besonderes Anliegen. Die Digitalisierung in Berlin und Brandenburg (und darüber hinaus) treibt er vor allem mit agilen Ansätzen voran, um über konkrete Projekte hinaus auch komplexe Organisationen zu transformieren.

Gregor: Patrick, wie bewertest Du Effizienz und Effektivität der deutschen Verwaltung?

Patrick: Die deutsche Verwaltung hat ja zwei entgegengesetzte Aufgabenstellungen. Einerseits muss sie ihre aktuellen hoheitlichen Aufgaben erbringen. Andererseits geht es darum, Effizienz und Effektivität dieser Leistungserbringung ständig zu steigern. Behörden müssen sich also, zusätzlich etwa zur Ausstellung von Personalausweisen, ständig weiterentwickeln. Diese Weiterentwicklung ist in Zeiten von Fachkräftemangel, immer neuen Technologien und höheren Komfort-Erwartungen der BürgerInnen besonders schwierig. Wenn die Verwaltung jetzt also verstärkt digitalisiert, könnte es zu Leistungseinbußen bei den Kernaufgaben kommen.

Meine Lieblingsmetapher dazu ist: Wir haben das Messer fallen gelassen. Jetzt müssen wir es mitten im Flug einfangen, bevor es gefährlich wird. Das macht niemand gerne, es tut auch weh, aber es ist notwendig.

Zurück also zu Deiner Frage: Noch ist die Verwaltung in der Lage, ihre Aufgaben zu erbringen. Aber es ist der Moment gekommen, effizienter und effektiver zu werden. Die Bürgerinnen und Bürger sind ja auch Kundinnen und Kunden. Sie wissen von Amazon&co was in der digitalen Welt sicher möglich ist. Sie werden die heutigen Wartezeiten und Prozesse der deutschen Behörden immer weniger akzeptieren.

"Wir müssen in das fallende Messer greifen"

Gregor: Das klingt sehr einfühlsam. Aber du beschreibst doch nur, dass der deutsche Staat es nicht geschafft hat, sich neben dem ‚heute‘ auch um das ‚morgen‘ zu kümmern. Eine solche Selbstverständlichkeit praktiziert doch vom Handwerksbetrieb bis zum Großkonzern jede vernunftbegabte Organisation. Wie konnte die deutsche Verwaltung denn in so eine Situation gelangen?   

Patrick: In der Tat, in der Privatwirtschaft herrscht ein ganz anderer Druck. Jedes Unternehmen zieht quartalsmäßig einen Strich unter Einnahmen und Ausgaben, und am Ende muss ein Plus dastehen. Wenn der Staat überhaupt eine solche Rechnung durchführt, dann sieht sie wesentlich abstrakter aus. Der Staat sollte also sehr viel mehr darüber nachdenken, welchen Mehrwert er erbringt, und welchen Aufwand er seinen BürgerInnen und Unternehmen im Gegenzug aufbürdet.

Lass und einmal den Personalausweis-Ausgabeprozess betrachten. Dessen Ausstellung kostet etwa 70 Euro und deckt damit gar nicht die Gesamtkosten des Staates. Andererseits entstehen auch dem Bürger mehr Aufwand als diese 70 Euro. Wenn die Terminfindung bspw. im Berliner Bürgeramt gefühlt ewig dauert, ich zwei Mal dafür auf das letzte verfügbare Bürgeramt in Lichtenrade oder Treptow muss und dort jeweils eine Stunde warte, dann gehen für diesen Vorgang für jeden Antragstellenden zwei Mal vier Stunden drauf plus den Verlust an Arbeitsproduktivität. Das können wir dann multiplizieren mit der Anzahl der Vorgänge und schon gibt es einen hohen volkswirtschaftlichen Einspareffekt bei einer Verwaltungs-Digitalisierung.

Für andere Verwaltungsdienstleistungen trifft dieser Effekt noch mehr zu: Windrädergenehmigungen, Baugenehmigungen, Gerichtsprozesse, Unternehmensgründungen. Der Staat hat eine unglaubliche Breite an Aufgaben. Geschwindigkeit, Zuverlässigkeit und Einfachheit von Verwaltungsprozessen könnten Wettbewerbsvorteile für Deutschland sein.

Eine klassische Return-on-Invest-Berechnung mit einem Fokus auf Marktpreis versus interne Kosten und Investitionen also funktioniert in der Verwaltung nicht. Aber der Geist des ROI wäre durchaus anwendbar auf den Staat. Aber man muss das ganz klar sagen: Aktuell ist die Kultur eine andere. Die Organisation ist da, es gibt den Prozess, und dann wird die Aufgabe abgearbeitet. 

"Die Verwaltung muss lernen, vom Adressaten ihre Leistung her zu denken!"

Gregor: Die Privatwirtschaft macht diese Übungen ja nicht aus Spaß, sondern weil sie ständigem Druck von Innen und Außen ausgesetzt ist. Welchen Druck müsste man denn auf die Verwaltung ausüben, damit sie mit diesem Geist des ROI an ihre Leistungen herangeht?

Patrick: Der Normenkontrollrat hat hierzu zwei interessante Gedanken in die Debatte geworfen. Zum einen sollte bei jedem Gesetz in Form eines Digital-Checks geprüft werden, ob diese Leistung nicht auch digital erbringbar ist. Das führt zwar nicht direkt zum ROI, aber zumindest schon einmal zur Effizienz. Bei der anderen Idee geht es um „One in, two out“. Also für jedes neue Gesetz sollten zwei Alte abgeschafft werden. Das beschreibt die Idealvorstellung der Entbürokratisierung. Richtig angewandt könnte dadurch die Regelungskomplexität deutlich vereinfacht werden. Wir hätten dann nicht mehr 37 Regelungen verteilt auf mehrere Gesetze, sondern würden über die Zeit die Regelungen je Themenbereich in weniger Gesetzen zusammenziehen.

Als dritten Gedanken würde ich noch ergänzen: Die Sichtweise des Adressaten der Verwaltungsleistung muss bei Gesetzgebung und Erbringung der Leistung ebenfalls einbezogen werden.

Gregor: Neudeutsch könnte man das dies „Citizen Journey“ nennen. Das ist aus meiner Sicht ein Riesendefizit und spielt in der Debatte um Verwaltungsdigitalisierung eine viel zu geringe Rolle. Ein Freund von mir aus Indien ist deswegen in Deutschland in eine riesige Bredouille geraten. Er hatte sich bei seinem Umzug in die USA nur bei der Gemeinde abgemeldet hat und nicht zusätzlich noch bei der Elterngeldstelle. Jetzt ist er vorbestraft.

Aber noch einmal zu Deinem Punkt mit der Entbürokratisierung. Ich sehe, dass das funktioniert, wenn es sich um ein Herzensprojekt eines Politikschaffenden handelt. Gut beobachten konnte man das bei den Balkonkraftwerken. Da hatte sich jemand im Wirtschaftsministerium die Citizen Journey angeschaut und festgestellt: Technisch ist alles einfach. Aber erst genehmigen die Stadtwerke nicht, dann muss man ein teures, unnötiges Bauteil beschaffen und das dann von ElektrikerInnen installieren lassen, die es nicht gibt.

Nach dem Solarpaket I ist dann alles viel einfacher. Aber wir können ja jetzt nicht die Anzahl der MinisterInnen verzehnfachen, nur damit es genug Lieblingsprojekte gibt ...

Patrick: Auch hier bin ich gar nicht so negativ gestimmt. Ich bin seit 20 Jahren in der Modernisierung der Verwaltung unterwegs. Was haben wir uns früher die Zähne ausgebissen an den damaligen Führungskräften, an den Damen und Herren aus der guten, alten Welt von Stift und Papier.

Aber langsam kommen auch Menschen mittleren Alters in Leitungsfunktionen. Menschen, wie du und ich, die schon im Studium E-Mail-Adressen hatten und nebenher ihr Geld mit html-Webseiten verdienten. Die bringen ein anderes Mindset mit und wollen selbst die alten Prozesse der Behörden nicht mehr akzeptieren.

"Wir brauchen ein Mindset des Durchboxens auf allen Ebenen der Verwaltung."

Gregor: Das klingt ja jetzt nach Altersdiskriminierung. Meine Mutter ist 84 und schreibt immer noch Artikel auf Wikipedia.

Patrick: Natürlich gibt es Tech Natives in jedem Alter. Aber entscheidend ist ja, wie viel relatives Gewicht diese Gruppe in einer Organisation erhält. Dieses Gewicht steigt zweifelsfrei mit einer zunehmenden Anzahl junger Leute.

Wenn dann jemand mit den üblichen Datenschutzbedenken versucht, bessere User Journeys zu torpedieren, dann sagen die: Lass uns doch im Antragsformular die BürgerInnen fragen, ob sie eine Benachrichtigung per SMS möchten. Danach löschen wir die Daten wieder, und schon sind wir GDPR-konform. Dieses Mindset des Durchboxens, das brauchen wir auf allen Ebenen.

Gregor: Ich schätze wirklich Deinen Optimismus. Den braucht man ja, und ohne ihn geht es auch nicht. Aber mich erinnert deine Geschichte an einen Dialog, den ich in der Oberstufe mit meiner Religionslehrerin hatte. Ich habe damals irgendetwas an der katholischen Kirche kritisiert und sie meinte: „Dann engagiere dich doch in der Kirche.“ Aber wenn ich mich dort 30 Jahre durch die Hierarchie arbeiten muss, um etwas zu bewegen, will ich am Ende gar nichts mehr bewegen, dann bin ich Teil des Systems.

Da schlägt dann wieder das Bonmot von Peter Drucker zu: „Culture eats strategy for breakfast.“

Patrick: Ich gebe Dir noch ein anderes Beispiel: Ende Mai fand das Mind Shift Festival statt in Berlin. Das organisiert übrigens Dorit Bosch, die auch den fantastischen Podcast „Let´s Staat“ betreibt. Das Festival ist kein klassischer Kongress, sondern es gibt Bootcamps, auch ohne feststehende Themen. Leute werden eingeladen, den Staat neu zu denken, Vorschläge auch einmal out-of-the-box zu formulieren. Das „System“ fängt quasi an sich selbst zu verdauen und damit dann auch zu transformieren.

Genau das ist auch nötig, um Gesetzeslagen und Rechtsverordnungen so anzupassen, dass Digitalisierung einfacher und nutzungsfreundlicher möglich ist.

Gregor: Patrick, vielen Dank für Deine Zeit!

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