Europa ist eine digitale Kolonie – Wie konnte es so weit kommen?

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04.12.2024
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8 min Lesedauer
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Europa ist in allen Bereichen der Digitaltechnik und Digitalisierung abhängig von anderen Kontinenten. Dies gilt für alle Ebenen der Digitalisierung, beginnend bei Rohmaterialien und Halbleitern über Software bis hin zum Cloud-Betrieb. Seltene Erden stammen zu 68% aus China, die Verarbeitung von Silizium ebenfalls, Hochleistungs-Halbleiter produzieren im Wesentlichen Taiwan und Südkorea und den Software-Markt dominieren die USA. Die meisten Rechenzentren basieren auf VMware, im Markt der Hyperscaler gibt es ein Oligopol von Microsoft, AWS und Google. Egal ob Private oder Public Cloud, wieder sind wir abhängig von US-Unternehmen.

Diese Abhängigkeit ist nicht nur theoretisch gefährlich

Beispiele aus der Vergangenheit zeigen: Sowohl China als auch die USA sind willens, ihre digitale Macht für politische Zwecke zu nutzen. Die USA unter Trump entzogen Huawei wichtige Sicherheitsupdates für Android-basierte Mobiltelefone. Venezuela wurde die Adobe-Cloud verweigert. Russland musste auf Kreditkartentransaktionen und teilweise auf Github verzichten. China nutzte die eigene Vormachtstellung bei seltenen Erden ebenso aus.

Erste Äußerungen der neuen Trump-Administration (wie jene von J.D. Vance bzgl. der Regulierung von X) zeigen zudem, dass offene Erpressung zum Spiel der Durchsetzung eigener Interessen wird. Tit for Tat: Wenn du nicht das, dann ich nicht das. Anders als in der Vergangenheit ist die Gefahr digitaler Erpressung also real.

Wie nun konnte es passieren, dass wir Europäer in eine derart gefährliche Abhängigkeit geschlittert sind? Um diese Frage zu beantworten, benötigen wir ein ehrlichen Blick auf die Realität der Unternehmen in Europa.

EU-Unternehmen sind zufrieden mit US-Technologie

Software und Cloud sind weitgehend unregulierte Märkte. Nach den klassischen Mustern des Kapitalismus hat sich daher ein Equilibrium aus Angebot und Nachfrage entwickelt. Um die Verhaltensmuster der Beteiligten besser zu verstehen, möchte ich drei Beispiele von Marktführern ihres Metiers einmal kurz beleuchten:

  • VMware bietet eine Server-Virtualisierungs-Software, die in den Rechenzentren europäischer Kunden weit verbreitet ist. Nach der Übernahme des Unternehmens durch Broadcom wurden die Preise der Software um das 2 bis 10-fache erhöht. Obwohl im Markt sowohl leistungsfähige als auch einfache Open-Source-Alternativen zu VMware-Softwares existieren, denken überhaupt nur etwa die Hälfte der Kunden über einen Wechsel zu diesen nach.
  • Microsoft bietet eine Workplace-Suite, die alle wesentlichen Office-Softwares integriert und um Governance-Funktionen ergänzt. Obwohl die Preise regelmäßig deutlich erhöht werden und es sowohl bessere als auch günstigere Alternativen für jeden Teilbereich der Workplace-IT gibt, setzen die allermeisten Unternehmen weiterhin auf M365.
  • Im Jahr 2023 ließ uns der Tech-Pionier und Entrepreneur David Heinemeier-Hansson öffentlichkeitswirksam an seiner Flucht aus der AWS-Cloud teilhaben. Er kaufte bei Dell Hardware ein, installierte darauf KVM als Open-Source-Alternative von VMware und befahl seiner Mannschaft aus Software-EntwicklerInnen, die IT-Infrastruktur fortan mitzubetreuen. Auf diese Weise reduzierte er seine Infrastrukturkosten von 2,3 M€ auf 0,8M€ pro Jahr. Dennoch wachsen die Umsätze der drei großen Public Clouds auf hohem Umsatzniveau weiter um 20-30% pro Jahr.

Die US-Cloud- und Software-Giganten scheinen also ein übles Spiel mit uns zu spielen. Sie erhöhen die Preise nach Belieben, wachsen schier unendlich, machen dabei Mega-Gewinne und bieten mitunter nicht einmal die beste oder innovativste Lösung. Sind Europas ManagerInnen denn alle verrückt?

Nein, sind sie nicht. Im Gegenteil, sie verhalten sich individualunternehmerisch überaus rational. Die allermeisten dieser Softwares und Services sind in sogenannten „horizontalen“ Märkten unterwegs. Es geht um Leistungen, die praktisch jedes Unternehmen egal welcher Branche benötigt: Speicher, Netzwerk, Rechenleistung, Virtualisierung, Datenbanken, Sicherheits-Services und Arbeitsplatz-IT. Grafik 1 zeigt zwei typische Beispiele solcher Anwendungen: M365 als eingekaufte Software für die Arbeitsplatz-IT und eine Oracle-Datenbank als Teil einer individuell entwickelten Software für den Fertigungsprozess.

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Grafik 1: Typische Anwenderorganisation von US-Softwares.

Beide Softwares erfüllen wichtige Aufgaben im Unternehmen, spielen aber für die Kernleistung des Kunden eine untergeordnete Rolle. Weder Bosch noch Linde, Otto, Mercedes oder BMW differenzieren sich von ihren jeweiligen Wettbewerbern durch eine bessere Arbeitsplatz-IT oder eine andere Datenbank im Fertigungsprozess. Im Gegenteil, die Softwares und Services müssen im Wesentlichen funktionieren. Nur wenn sie es nicht tun, dann fallen sie auf, sorgen für Störungen in der Produktion oder im Verkaufshaus.

Grafik 1 zeigt ebenfalls den schematischen Aufbau einer typischen Anwenderorganisation. Eine fehlerhafte Ablösung von Oracle könnte potenziell die komplette Fertigungslogistik stören, der Wechsel der Workplace-IT von M365 zu Nextcloud würde jeden einzelnen Mitarbeitenden der Organisation betreffen. Jede neue Software bringt Compliance-Probleme mit sich, die IT-Governance verändert sich. Schlüsselmitarbeitende könnten entscheiden, bei der Technologie zu bleiben statt beim Arbeitgeber. Neue, kulturfremde ExpertInnen müssten geheuert, eingearbeitet und motiviert werden. SachbearbeiterInnen könnten meutern, weil sie ihre gewohnten Programme verlieren.

Zur Management-Komplexität kommt häufig noch eine größere technische Komplexität der Open-Source-Alternativen. Martin Loschwitz etwa schreibt hierzu im Linux-Magazin (06/2024) wie folgt: „[…] viele Administratoren ergreift die blanke Panik, wenn sie den Begriff OpenStack auch nur hören.“ Ursache hierfür sei „[…] die hohe implizite technische Komplexität massiv skalierbarer Umgebungen […].

Erfolgreiche Software- und Cloud-Konzerne denken denn auch in "Experiences". VMware hat eine besser "Admin Experience" als OpenStack, Software-Entwickler bekommen Pickel, wenn sie an die "Developer Experience" ihrer Firmen-Private-Cloud denken und Konzern-Entscheider lieben die "Manager Experience" von AWS, Google und Microsoft. Was das ist? Ein exklusives Vertriebs-Team mit eigenen ArchitektInnen und Lösungs-ExpertInnen, kostenlose Testversionen und Pilotmigrationen, Hilfe beim Stakeholdermanagement, Tipps & Tricks im Umgang mit Compliance und Rechtsabteilung, umfangreiche und kostenfreie Trainings-Sessions und exklusiven Zugang zu Branchengrößen wie Mark Schwartz oder Uli Homann.

ManagerInnen überlegen es sich doppelt und dreifach, ob sie wegen einigen Euro Preiserhöhung pro Lizenz ein großes, risikoreiches Projekt zu Open-Source oder europäischen Providern beginnen.

EU-Unternehmen verhalten sich rational

Um ziemlich viel also müssten sich die ManagerInnen kümmern, wenn sie auf Alternativen zu den US-Software wechselten. Aber wofür? Weil eine von Tausend Kostenpositionen des Unternehmens steigt? Gute Führungskräfte wägen genau ab: Welche Kostensenkungspotentiale habe ich außerdem? Was ist wichtig für meine Kunden? Was bringt mich strategisch weiter? Welchen Kampf möchte ich führen?

Den Betrieb von IT-Infrastruktur und -Middleware sowie die Entwicklung von Softwares outzusourcen, die nicht das Kerngeschäft betreffen, ist für die allermeisten Geschäftssituationen also betriebswirtschaftlich sinnvoll. Die Qualität der digitalen Güter steigt im Vergleich zur Eigenleistung, externe Zulieferer ermöglichen Geschwindigkeit und Flexibilität und helfen dem Anwenderunternehmen sich auf sein Kerngeschäft zu fokussieren. Die Erfolgsgeschichte der Public Cloud zeigt: Das ist kein Buzzword-Bingo, das ist die unternehmerische Realität.

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Grafik 2: Equilibrium aus US-Angebot und EU-Nachfrage.

Was ManagerInnen in ihrer Rolle im Unternehmen natürlich nicht im Blick haben: Weil die meisten dieser Software-Lieferanten aus den USA kommen, führen ihre individuell sinnvollen Entscheidungen zu großen geopolitischen Abhängigkeiten. SAP als EU-Unternehmen spielt zwar mit in der Liga globaler Abhängigkeiten, aber Amerika, als Mutterland von Cloud und Software, gewinnt sie immer, die 'Champions League of Software Dependency'.

Gute Business-Entscheidungen führen mitunter zu gesellschaftlichem Unsinn

Das Muster, dass individuell richtige Entscheidungen zu geopolitisch ungewollten Abhängigkeiten führen, ist seit dem Ukraine-Krieg weithin bekannt. Im Jahre 2021 noch betrug der Gaspreis für deutsche Industrie-Kunden etwa 3ct pro kWh und lag damit deutlich unter jenen Preisen, die etwa Japan zahlen musste. Unser Pipeline-Gas war halt günstiger als das umständlich importierte Flüssiggas (LNG) der Japaner. Ein solches Terminal auch in Deutschland zu bauen war zwar in den 2010er Jahren in Diskussion, wurde aber abgelehnt. Das Argument: Kein ökonomisch handelnder Akteur würde das teurere LNG-Gas freiwillig kaufen, aufgrund mangelnder Auslastung würde es zur Investitionsruine verkommen.

Die Incentives des Gasmarktes vor 2022 also führten einerseits dazu, dass wir keine alternativen Zugänge zum Gas aufbauten. Auf der anderen Seite konnten sich im rohstoffarmen Deutschland dafür energieintensive Branchen, wie die Glas-, Keramik- und Ziegelindustrie, halten.

Putin also schenkte uns mit seinen günstigen Preisen die Möglichkeit, Römertöpfe in Ransbach-Baumbach herzustellen, als Gegenschenk forderte er die Ukraine. Gute Business-Entscheidungen führten zu gesamt-gesellschaftlichem Unsinn.

Wir könnten einfach auf den Ernstfall warten

Eine positive Lehre aus der Gas-Krise wiederum lautet: Mit der Pistole auf der Brust geht es sehr schnell.

Vorschläge, die in normalen Zeiten das Klein-Klein großer Organisationen aufreibt, werden plötzlich annahmefähig. Robert Habeck reist nach Katar und bestellt teures Gas. Der Finanzminister besorgt Geld, nicht einmal der Rechnungshof meckert. Genehmigungen für Gas-Terminals gehen schnell, aus Horizont-verspargelnden Windkraftanlagen werden Freiheitsenergien. Selbst der Handwerkerverband sieht ein, dass Stecker von Balkonkraftwerken auch ohne Meisterausbildung in Steckdosen gesteckt werden können.

Analog dazu würde die Markt-Entwicklung auch bei einem US-Embargo für Clouds und Softwares ablaufen. Donald Trump etwa könnte der Firma Oracle, aus Gründen der nationalen Sicherheit, verbieten, Updates an deutsche Kunden zu verteilen. Aus einem 5-Jahres-Projekt wird dann eine High-Speed-Migration. ExpertInnen aus allen Projekten werden abgezogen, Kunden verzichten auf neue Features, die Anwendung wird in wenigen Monaten auf Open-Source-Alternativen migriert. Der CFO findet die notwendigen Finanzmittel, der CEO meldet den AktionärInnen den Gewinneinbruch. Kunden meckern nicht, sie sind froh und dankbar über jeden Tag ohne Systemausfall.

Wir müssen den Tech-Markt insgesamt verändern

Einiges spricht dafür, einfach der Dinge zu harren und zu hoffen, dass sich Donald Trump und Xi Jinping miteinander statt mit Europa beschäftigen. Einiges aber spricht auch dafür, sich digital von den großen Mächten im Westen und im Osten zu emanzipieren.

Eine moralisierende Debatte auf LinkedIn und X über digitale Souveränität zu führen wird allein nicht reichen. Das Equilibrium aus US-Anbietern und EU-Nachfragern ist zu stabil, das globale Big Tech liefert zu gute und zu vielfältige Services in zu hoher Qualität.

cloudahead Das Equilibrium Richtung Lokalen Eu Anbietern Verändern
Grafik 3: Wir müssen das Equilibrium in Richtung europäischer Anbieter beeinflussen.

Wenn wir etwas verändern möchten, dann müssen wir die Marktmechanik grundlegend beeinflussen. Wir müssen auf der einen Seite dafür sorgen, dass sich unsere Nachfrage verändert. Geopolitisch sinnvolle Entscheidungen müssen zum Teil unternehmerischen Handelns werden. Auf der anderen Seite geht es darum, global wettbewerbsfähige, europäische Angebote zu schaffen. Wir Europäer müssen lernen, die innovativen Kräfte des Kapitalismus zu nutzen, um uns als Kontinent im globalen Wettbewerb zu behaupten.

Was aber genau sollten wir tun? Wie könnte sich Europa emanzipieren von den vielen Abhängigkeiten in Cloud und Software? Darum soll es im zweiten Teil dieses Artikels gehen, den wir nächste Woche veröffentlichen.

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