Die Psychologie der Anti-Cloud-Debatte

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12.03.2024
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Die Cloud ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte. AWS erfand sie, Microsoft und Google zogen nach und trieben den Unternehmenswert ihrer Mutterunternehmen in ungeahnte Höhen. Neben den Hyperscalern gibt es zahllose kleine Public Clouds, wie etwa WX1, MetalStack.io, und mittelgroße wie IONOS und StackIT. Einfach und für jeden mit Kreditkarte nutzbar. Private Clouds gibt es ebenfalls. Einige davon können mit den großen technisch mithalten, andere wurden zu Private Clouds, einfach durch ein neues Gewand für das alte Rechenzentrum.

Trotz des Siegeszugs der Cloud gibt es eine große Anticloud-Debatte. In den 2010ern lauteten die Argumente meist, sie sei unsicher oder verstieße gegen den Datenschutz. Jetzt geht es eher um Abhängigkeit, Lock-In und erhöhte Kosten. Zudem leide die Umwelt.

Die Kakophonie der Meinungen

Wer Kritikern wie Befürwortern genau zuhört, der merkt: kaum jemand erzählt die ganze Geschichte, kaum jemand erzählt sie ohne Eigeninteresse. Hier daher eine kleine Übersicht über die typischen Kämpfer im Ring und ihre Interessen.

Der Cloud-Vertriebler

Dieser Typ Mensch vertreibt in der Regel die Hyperscaler. Warum? Er würde auch alles andere verkaufen, aber für AWS et. al. gibt es die besten Provisionen. Der Cloud-Vertriebler weiß genau, was die Entscheider beim Kunden am liebsten hören: Mit der Cloud kann man Kosten sparen. Also erzählt er es. Mit bewunderswertem Stoizismus versucht er selbst eine Dataport zur Migration zu Azure zu bewegen, schließlich gibt es einen Sonderrabatt von 3% auf den Verbrauch im aktuellen Geschäftsjahr.

Bild 1: Der Cloud-Vertriebler ist sehr von seinem Produkt überzeugt.

Manchmal sitzt der Cloud-Vertriebler im Google-T-Shirt in der Telefonkonferenz und spricht von „Wir bei Microsoft“. Kein Wunder, der Kunde ist der gleiche, er hat nur den Arbeitgeber gewechselt.

Der Cloud-Vertriebler ist ein Cloud-Fan. Vorher aber war er Fan von CISCO, NetApp, HP oder VMware, denn: 'Wessen Brot ich esse, dessen Lied ich singe.'

Der Open-Source-Idealist

Sein Motto ist: „Souverän ist nur wenn Open-Source“. Logisch, denn nur Softwares, die man selbst anpassen kann versprechen Kontrolle und ohne Kontrolle keine Souveränität. Der Open-Source-Idealist ist technisch sehr begabt und wird nostalgisch, wenn er an die Zeiten zurückdenkt, als er noch Assembler programmierte. Wie Linus Torvalds „just as a hobby“ nebenher noch ein Betriebssystem entwickelte, kümmert er sich noch um 2-3 Open-Source-Projekte, die als Grundlage der digitalen Infrastruktur dieser Welt dienen. So Dinge wie Yocto, coreutils oder prossimo, alle total unterschätzt im Diskurs auf LinkedIn und Twitter.

cloudahead Der Open Source Idealist
Bild 2: Der Open-Source-Idealist kämpft an vielen Fronten.

Der Typ Open-Source-Idealist ist kein Fan der Hyperscaler. Zwar schätzt er die zugrundeliegenden Ideen der Automatisierung, der Skalierbarkeit und des technologischen Fortschritts. Aber leider hat er dort eben nicht alles unter Kontrolle, kann nicht alles konfigurieren und anpassen. Auch stören ihn die vielen proprietären Schnittstellen, die alle nicht sein müssten, würden Cloud-Anbieter und Kunden nur alle ordentlich in den Open-Source-Projekten mitarbeiten. 

Der Software-Architekt

Sein Motto ist: “Architecting the future, one decision at a time.” Alles ist möglich, nur alles hat halt Vor- und Nachteile. Der Architekt hat insgeheim eine Lieblingscloud, aber darüber redet er nicht gerne. Wichtig sind die Anforderungen, der Kunde, das Geschäft, die Rahmenbedingungen.

Wenn das Unternehmen nur weiß, was es will, und bereit ist, den Weg zu gehen, dann entwirft der Architekt die Lösung. Das kann die Public Cloud sein oder eine Private Cloud. Oder Hybrid oder Multi oder APIs, ein Container oder ein Abstraction Layer. Wunderbar … Abstraktion ist ohnehin sein Lieblingsthema.

Bild 3: Der Software-Architekt kennt Vor- und Nachteile aller IT-Infrastrukturen.

Der Software-Architekt ist in jedem Falle ein Cloud-Befürworter. Es darf nur nicht alter Wein in neuen Schläuchen sein. Das alte Rechenzentrum, mit dem gleichen OnPrem-Admin als Nachtwächter, das geht gar nicht. Schlimmer sind nur Manager, die nicht entscheiden. Dazu zitiert er dann Gregor’s Law: „Excessive complexity is nature’s punishment for organizations that are unable to make decisions.”

Der Fürst des OnPrem

Der Fürst des OnPrem liebt sein Rechenzentrum. Er hat es aufgebaut, damals vor 30 Jahren, als IT noch „People Business“ war. Er ist das Herz der Bude, kennt jeden Stecker, macht die Nacht durch, wenn der Dieselmotor für die Notstromversorgung gewechselt wird. Sein Motto in Meetings: „Das haben wir 2005 und 2012 schon einmal versucht, das wird sowieso nicht funktionieren.“

Mit dieser Einstellung haben er und sein Rechenzentrum viele Effizienzprogramme, M&As und Cloud-Initiativen überlebt. Er ist sich sicher, dass das bis zu seiner Rente auch so bleibt. Wenn Leute mit Ahnung in Meetings sitzen, wird es manchmal ungemütlich für ihn. Dann muss er mit dem Open-Source-Idealisten darüber debattieren, warum er nicht von VMware wegwill oder dem Software-Architekten erklären, warum es wirklich notwendig ist auf virtuelle Maschinen 3 Monate zu warten.

Bild 4: VMware erklärt 2015 seine Interpretation einer 'Cloud-First-Strategie'.

Meetings mit Managern sind einfacher. 2010 hat er denen erklärt, die Cloud sei nicht gut genug. 2014 dann war die Cloud unsicher. Seit 2016 nennt er sein altes Rechenzentrum eine Private Cloud, eine Migration in die Public Cloud würde ohnehin nichts bringen. Seit 2019 gehen Migrationen ohnehin nicht mehr wegen der DSGVO. Aktuell oszilliert seine Argumentation irgendwo zwischen 'Die Kosten sind zu hoch', 'wenn man mal drin ist, kommt man nicht mehr heraus' und 'stellt euch vor, der Trump kommt wieder an die Macht'.

Der OnPrem-Fürst ist definitiv kein Fan der Public Cloud. Private Cloud oder klassische IT-Manufaktur, das ist ihm egal, Hauptsache er kann die Server anfassen.

Der 3-Sterne-Techie

Das Musterbeispiel des 3-Sterne-Techies ist David Heinemeier-Hansson. Eine Art eierlegende Wollmilch-Sau. Er ist Full-Stack-Entwickler, kann also sowohl hübsche Oberflächen bauen als auch komplizierte Logik und Infrastruktur entwickeln. Er versteht die Anwenderprobleme und hat ein florierendes Geschäft aufgebaut. Und er spielt mit LinkedIn und Youtube besser als jeder Marketingspezialist.

Bild 5: Der 3-Sterne-Techie ist Early Adopter. Beim Cloud-Move und beim Cloud-Escape.

Der 3-Sterne-Techie automatisiert alles, baute mit 8 Mitarbeitern Instagram auf, mit 10 Mitarbeitern Midjourney und mit 22 Mitarbeitern DeepL. Er war einmal ein Fan der Public Cloud, weil da kann man besser automatisieren. Sie war auch günstiger für sein wachsendes Startup damals, im Jahr 2010. Aber jetzt? Jetzt macht er das besser alleine. Logisch, eine Wollmilchsau kann ja auch Ställe bauen.

Der 3-Sterne-Techie findet die Cloud also im Prinzip gut, nur eben die aktuellen Angebote der Hyperscaler nicht zu den aktuellen Preisen.

Der Einfach-Machen-Anwender

Das Motto dieser Persona lautet: „Einfach machen. Einfach machen.“ Nach dieser Devise hat er sein Haus auf Smart-Home umgestellt und sein Nebengewerbe aufgebaut. Er fährt Tesla, denn die haben ihre IT-Sicherheit im Griff im Vergleich zu den deutschen Fricklern. Die hätten mal besser auf Standardkomponenten gesetzt, statt alles selbst zu entwickeln.

Nach dieser Devise hat er eine umfassende Schatten-IT aufgebaut im deutschen Großkonzern. Er betreibt ein alternatives CRM in Salesforce, teilt Dokumente über Dropbox, dokumentiert in der freien Version von Miro und erlaubt seinen Mitarbeitern schon seit 2010 einen Full-Remote-Arbeitsplatz – gegen die Firmen-Policy. Sein Chef schaut engagiert weg, denn dieser weiß: Wenn man es sich mit diesem Leistungsträger verscherzt, wird es nichts mit dem Umsatzwachstum.

Bild 6: Musk baut sein Gefährt mit Standard-Handy-Akkus und Karosserie eines Verbrenner-Autos.

Der Einfach-Machen-Anwender ist ein Riesenfan der Cloud. Für ihn ist sie der Schlüssel zur Selbstwirksamkeit. Die Cloud macht ihm vom Opfer zum Akteur. Nur Cloud ist für ihn nicht nur AWS oder Azure, für ihn ist Cloud auch die schöne neue Welt des SaaS.

Der Datenschützer

Dieser Protagonist hat vor allem Bedenken. Bedenken, dass die vielen Vorschläge und Ideen gegen den Datenschutz verstoßen könnten. Die Bedenken könnte er ausräumen, wenn er sich einarbeiten würde in die genaue Daten-Architektur der Lösung. Er könnte sich sogar informieren, wie vergleichbare Unternehmen im Geltungsbereich der DSGVO diese Bedenken aufgelöst haben. Aber beides sieht er nicht als seine Aufgabe, denn er darf nicht Partei sein in der Suche nach einer guten Lösung.

Der Datenschützer ist sich sicher: "Nicht der Datenschutz verhindert die Digitalisierung, sondern die schlechte Digitalisierung behindert den Datenschutz." Insgesamt fehle es in der Organisation an der Erkenntnis, dass Datenschutz eigentlich ein Wettbewerbsvorteil sei.

Bild 5: Prof. Ulrich Kelber zum Thema Wettbewerbsvorteile durch Datenschutz mit Hilfe von Digitalisierung.

Der Datenschützer ist nicht gegen die Cloud per se. Nur geht es eben auch um etwas Größeres. Um das Recht auf Privatheit, um europäische Werte, um Freiheit und Selbstbestimmung.

Der Snowdonianer

Der Snowdonianer hat alle Dokumente auf Wikileaks gelesen. Er kennt die Beispiele, in denen die NSA die Netzwerkkomponenten verwanzt hat, weiß um absichtlich geschwächten Verschlüsselungsalgorithmen von RSA, zitiert Beispiele von abgehörten Internetkabeln. Open Source ist nicht sicher, siehe Log4j. Closed-Source ist ebenso unsicher, siehe SolarWinds.

Ist die Public Cloud ebenso verwanzt? Dazu steht nicht so viel im Internet. Aber die offiziellen Angaben auf den Websites der Hyperscaler sind unspezifisch. Zudem können US-Behörden Unternehmen mit Hilfe von Gagging Orders zum Stillschweigen verpflichten. Auch gibt es in Deutschland viele legale Möglichkeiten zur Überwachung (Bsp: G10-Gesetze) sowie eine intensive Zusammenarbeit der internationalen Geheimdienste.

Den Angemessenheitsbeschluss der EU-Kommission fände der Snowdonianer in Ordnung, wenn die USA zwischenzeitlich wirklich etwas für mehr Datenschutz getan hätten. Leider aber hat sich am US-Datenschutzrecht praktisch nichts geändert.

Der Snowdonianer ist weder für noch gegen die Cloud. Er ist für ein Anti-Spy-Abkommen, wie von Max Schrems vorgeschlagen. Bis dahin fährt er seinen alten Golf 3 weiter, denn der hat nicht so viel Elektronik.

Stabil im Magnetfeld der Sichtweisen

Das Problem der Debatte ist, dass jeder der Beteiligten mindestens ein bisschen Recht hat. Bei der Public Cloud gibt es berechtigte Datenschutzbedenken. Die Geheimdienste gelangen, egal in welcher IT-Infrastruktur, an mehr Daten, als der Laie so denkt. Das Umsatzwachstum auf Schatten-IT aufzubauen, erzeugt massive Compliance und Governance-Probleme. Die Public Cloud kann sehr günstig und sehr teuer sein, ebenso wie das eigene Rechenzentrum.

Die traurige Ironie der Debatte ist, dass der superfortschrittliche 3-Sterne-Techie dem OnPrem-Fürsten in seinem Cloud-Bashing in die Hände spielt. Die Argumente der Ultramoderne also legen der mühsamen Flucht aus dem digitalen Altertum weitere Steine in den Weg.

Umgekehrt verhält es sich mit dem Einfach-Machen-Anwender und dem Open-Source-Idealisten: Beiden geht es ehrlich um den Fortschritt der Organisation, nur wirken sie auf unterschiedlichen Ebenen des Stacks. Ersterer verhilft dem Unternehmen mit seiner Schatten-IT aus Miro und Salesforce zur Leistungsfähigkeit um den Preis der digitalen Abhängigkeit. Letzterer bindet mit seinem Kampf für mehr Kontrolle im Detail so viel Aufmerksamkeit und Ressourcen, dass kaum Managementfokus zum Aufbau von begeisternden digitalen Services für Kunden und Bürger bleibt. 

Der Software-Architekt würde diese Konflikte mit seinem Werkzeugkasten moderner IT gerne auflösen. Nur benötigt er hierfür Entscheidungen. Entscheidungen, die alle einen Preis haben: Investitionen, Migrationen, Applikations-Modernisierung, Schulungen, Prozessveränderungen und Change-Management. Entscheidungen, die er meistens nicht bekommt.

Von statischer zur dynamischen Stabilität

Der Konflikt der vielen guten Sichtweisen lässt sich auflösen, wenn man den Faktor Zeit gezielt einbezieht. Ein gutes Vorbild ist David Heinemeier-Hansson. Mit seinem Startup startete er onPrem, prüfte aber regelmäßig die Alternativen aus der Public Cloud. Irgendwann entschied er sich für eine Migration zu AWS, denn die Storage-Preise sanken und er musste sich nun nicht mehr um Hardware kümmern. Einige Jahre später dann hatten sich die Rahmenbedingungen wieder geändert, Heinemeier-Hansson bestellte HP-Server und begann erneut mit dem Hardware-Betrieb.

cloudahead Technologie Wellen Der Vergangenheit Und Zukunft
Bild 6: Immer mehr Technologiewellen in immer kürzerer Zeit.

In einer Welt, über die in immer kürzeren Abständen Technologie-Wellen schwappen, hat Heinemeier-Hansson eine Art dynamische Stabilität geschaffen. Das dynamische sind die ständigen Migrationen und Remigrationen. Das Stabile in seiner Welt ist seine fortwährend aktuelle Tech-Kompetenz. Seine Teams reiben sich nicht auf in den repetitiven, manuellen Tätigkeiten der alten IT. Sie automatisieren das alte Zeug und kümmern sich um das Neue.

Mit der durchschnittlichen Organisation eines VMware-Kunden aber hat das nichts zu tun. Dort dauern Bestellungen von IT-Services noch Wochen oder Monate statt Sekunden oder Minuten. Dort beten die Software-Entwickler morgens, dass der Infrastruktur-Admin gute Laune hat. Diesen Organisationen würde ich in jedem Falle eine ordentliche Cloud-Migration empfehlen – egal ob zum US-Hyperscaler oder in eine EU-Cloud. Hauptsache sie lernen die neue Welt kennen, bilden sich fort und modernisieren ihre digitale Leistungserbringung.

Die gute Nachricht zum Ende

Ich habe schon einige IT-Organisationen in meinem Leben besuchen dürfen und egal wie rückschrittlich sie von außen schienen: Es fanden sich immer begabte, kreative und leistungswillige Menschen. Wenn es es Unternehmen gelingt, deren Fähigkeiten für die Erreichung der offiziellen Ziele zu nutzen, lassen sich auch die immer wieder bevorstehenden Transformationen meistern.

Bild 7: Ein Netzwerk-Ingenieur programmiert die LEDs einer Netzwerkkomponente zu einem Computerspiel.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit, habe ich diesmal auf das Gendern verzichtet. Selbstverständlich gibt es diese Protagonisten in jeglichem Geschlecht und jeglicher Ausrichtung. 

Alle Texte, Daten und Grafiken...

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