Alle reden von künstlicher Intelligenz. Viele probieren sie auch schon aus. Das gilt nicht nur für Unternehmen wie Klarna, die versuchen, 700 menschliche Mitarbeiter durch ChatGPT zu ersetzen. Der KI-Boom erreicht auch unsere Haustiere (Überwachung der Gesundheit), unsere Kinder (Erziehung und Betreuung) und sogar Insekten (Schädlingsbekämpfung).
Diese Technologiewelle ist nichts besonderes
Es scheint, als würde uns die KI überwältigen wie zuvor keine andere Technologie. Subjektiv mag das stimmen, aber objektiv folgt auch dieser Trend einem klaren Muster. Um zu verstehen, was mit uns als Wirtschaft und Gesellschaft passiert, muss man den Kernvorteil fast aller grundlegenden Technologien gewahr werden: Sie reduzieren die Grenzkosten eines Wirtschafts-Gutes auf fast Null.
Ein eindrucksvolles Beispiel für einen solchen Wandel war die Abkehr von den klassischen Rechenzentren hin zur Cloud. Wenn Sie in der Vor-Cloud-Ära eine zusätzliche Einheit Rechenleistung benötigten, mussten Sie einen umständlichen Prozess mit Ihrem IT-Infrastrukturanbieter in Gang setzen. Was genau ist der Bedarf? Welche Hardware, welches Betriebssystem? In welches Netzwerk sollte sie eingebunden werden? Die Rechenleistung selbst war dann irgendwann verfügbar, allerdings dauerhaft für die Zeit der Abschreibung der Hardware (3-5 Jahre), ergänzt um eine Installationspauschale und eine feste monatliche Gebühr.
Mit der Cloud dagegen gibt es eine zusätzliche Recheneinheit für weniger als einen Cent. Um genau zu sein: Sie erhalten 1 Gigabyte-Sekunde (GBs) Rechenleistung auf Azure Serverless für 0,000016 US-Dollar. Wenn Sie nur ein zusätzliches GB benötigen, zahlen Sie genau das.

Der Mechanismus der gegen Null gehenden Grenzkosten ist in der Vergangenheit vielfach zu beobachten: Was heute eine kostenlose E-Mail ist, war früher ein wochenlanger Ritt mit dem Ponyexpress. Was heute das Einschalten der elektrischen Stadtbeleuchtung per Knopfdruck ist, waren in der Ära des Gases Horden von Laternenanzündern. Baden-Baden macht dies übrigens heute noch, aus Nostalgie-Gründen.
Was lernen wir von diesem Muster bezogen auf KI? ChatGPT von OpenAI, Vertex von Google und Llama von Meta sind in der Entwicklung und im Training enorm teuer, senken aber die Grenzkosten für menschenähnliche Kognition. Wie viel würde ein klassisches Brainstorming mit Ihrem Team aus Menschen kosten? Wie viel müssten Sie menschlichen ÜbersetzerInnen bezahlen, damit diese ein Dokument ins Koreanische übersetzen? Wie teuer und aufwändige wären Briefing und Beauftragung von GrafikdesignerInnen, um erste Entwürfe für Grafiken und Zeichnungen zu erhalten?
Das Prinzip liegt auf der Hand: Ohne KI müssten Sie für ein Brainstorming Ihr Team zusammenbringen. Sie organisieren die Terminkalender, briefen alle Beteiligten, engagieren ModeratorInnen, stimmen die TeilnehmerInnen mit ausgefallenen Eröffnungsfragen auf die Aufgabe ein und gehen dann in den Brainstorming-Modus. Schließlich fasst jemand alles in einer PowerPoint-Präsentation zusammen. Mit KI? Sie schreiben einen Prompt.
Neue Kostenparadigmen verschieben ganze Volkswirtschaften
Jetzt könnten Sie sagen: Gut, ich kann mit KI billiger brainstormen. Halluzinationen sind hier hier sogar ein Feature, kein Bug. Aber wen interessieren denn Brainstormings? Investiert Big Tech wirklich Milliarden in KI, damit wir besser Brainstormen können? Auch hier ist die Cloud-Analogie eine echte Hilfe: 2009 sagten die versierten IT-AdministratorInnen: Wer bitte will eine Minute Rechenleistung einzeln mieten? Sinnlos wäre das, denn im Vergleich zur eigenen IT-Infrastruktur wird dieser Ansatz viel teurer, wenn man die Rechenleistung drei Jahre lang voll nutzt.
Nun, was der IT-Administrator damals nicht verstand: Die flexible Anmietung von Cloud-basierten IT-Services ermöglichte völlig neue Geschäftsmodelle. Die heutige Welt der kostenlosen (werbebasierten) oder Freemium-Online-Dienste wie Instagram, Google, Miro, Zoom, Dropbox, Canva, Slack und Spotify wäre einfach nicht denkbar, wenn ihre Anbieter für jeden neuen Kunden einen monatelangen Bestellprozess für einen Linux-Server, etwas Speicherplatz und eine Firewall durchlaufen müssten.
Die Cloud als Grundlagentechnologie senkte also die Grenzkosten der Datenverarbeitung und veränderte unserer Wirtschaft. IT wurde schnell, zugänglich und skalierbar und löste eine ganz neue Ära der Innovation aus. Apple, Google, Microsoft, Amazon und Facebook wurden zu den wertvollsten und profitabelsten Unternehmen und ließen die gute alte Ölindustrie hinter sich.
Zurück zu unserer Analogie: Künstliche Intelligenz senkt die Grenzkosten menschlicher Kognition. Denken, Malen, Sprechen, Verstehen, Konzepte erstellen - all das wird billiger, zugänglicher und technisch skalierbar. Wir haben Grund zur Annahme, dass dies zu einem erneuten Paradigmenwechsel in unserer Wirtschaft führen wird.
KI ersetzt einige menschliche Arbeitsplätze
Die erste Welle der Innovation war leicht zu erkennen. Große Sprachmodelle (LLM) sind gut mit Sprache. Also hat Klarna einige menschliche Call-Center-Arbeitsplätze durch Bots ersetzt. Auch Text-zu-Bild-Modelle wie Midjourney übernehmen sicher die Aufgaben von FotografInnen und anderen KünstlerInnen. Auch Unternehmens-Beratungen, die ja viele Dinge mit Worten erledigen, können zunehmend durch LLMs ersetzt werden: Das Analysieren von Texten, das Schreiben von Konzepten und das Verbreiten von Wissen ist nichts, was die KI nicht auch kann. Mein Beileid.

Aber jetzt kommt die wirtschaftliche Macht der Preise ins Spiel. Wenn Sie McKinsey fragen, würden Sie eine Million Dollar zahlen und diesen Ratschlag erhalten: “Im Bereich der Preiselastizitätsdynamik führt eine Anpassung der Preisstruktur nach unten in der Regel zu einem Anstieg der Verbrauchernachfrage, was die der Preiselastizitätsfunktion innewohnende umgekehrte Beziehung widerspiegelt.”
Ich würde sagen: Wenn Preise sinken kaufen Menschen mehr Zeug.

Die zweite Welle von Innovationen wird nicht offensichtlich
Was passiert, wenn Leistungen verfügbar und günstig sind, lässt sich an der Entwicklung der Postdienste in den letzten 30 Jahren ablesen. Die Grenzkosten eines analogen Briefes lagen nie auf dem Niveau eines Windows-Servers. Dennoch, 20-80 Cent, plus der mühsame Akt des Druckens, Stempelns, Verpackens und der Gang zum Postamt ließen jeden zweimal überlegen, ob diese Nachricht wirklich der Mühe wert ist.
Mit dem Aufkommen der E-Mail sank nicht nur die Postgebühr für das Versenden von Briefen auf Null, auch der Prozess des Verpackens und Versendens wurde auf einen Knopfdruck reduziert. Die nächste Grafik zeigt um das Jahr 2000 herum die erste Welle der Innovation: Viele klassische Briefe wurden nun zu einer E-Mail.

Um das Jahr 2010 herum kam die zweite Welle, begleitet vom Aufkommen der Smartphones: Nachrichtenversand war nun kostenlos, daher erhielt jedes digitale Ding Nachrichtenfunktionen. Messaging-Dienste wie WhatsApp tauchten auf, die Menschen erfanden Gruppennachrichten, Softwareanwendungen wurden über Message Queues miteinander verbunden. Als nächstes dann entstand ein völlig neues Nachrichten-Format: Soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook. Kommunikation zwischen Gruppen und Menschen wurde neu gedacht, völlig neue Märkte wurden erschlossen. Seitdem passt sich sogar unsere Sprache an die neue Technologie an (LOL, 😀🤩😪, tl;dr), das neue Medium löste Revolutionen aus und veränderte unsere Gesellschaft . Kann sich jemand dies in einer Welt vorstellen, in der jede dieser Nachrichten 80 Cent für eine Briefmarke und einen mühsamen Weg zum Briefkasten erfordern würde?
Was passiert, wenn die Grenzkosten des Denkens gleich Null sind?
Um von der Brief-Analogie zur künstlichen Intelligenz zurückzukommen: Diese neue Technologie ist nicht nur jetzt schon günstiger im Wahrnehmen, Hören, Denken, Sprechen und Schreiben als der Mensch, die Kosten sinken sogar noch weiter. Die Folgefrage lautet nun: Welche Innovationen zaubern wir Menschen jetzt aus unserem Hut?
Werden wir Messaging-Apps für KI-Modelle entwickeln? Wahrscheinlich nicht, aber es wird viele andere Anwendungsfälle geben. Die meisten dieser Anwendungen werden keine menschlichen Arbeitsplätze ersetzen, sondern Dinge tun, die Menschen nie zuvor getan hätten. Beispiele? KI ist schon heute besonders gut im Schreiben von Tests und Dokumentationen (in der Softwareentwicklung). Dies ist eine Aufgabe, die menschliche Entwickler in der Vergangenheit leicht hätten erledigen können, aber nur selten taten. Mit der KI steigt nun die Wahrscheinlichkeit, dass die Software, die wir verwenden, tatsächlich getestet und dokumentiert wird.

Ein weiteres Beispiel für den Effekt, dass Menschen neue Probleme finden, die sie lösen, wenn ein Service sehr günstig verfügbar ist, liefert der Youtuber Marius Quast. Der Creator von Ski- und Radfahrvideos spricht in seinen Videos inzwischen 7 Sprachen fließend. Die Qualität des zugrunde liegenden KI-Dienstes (Dubly.AI) ist unglaublich. Ohne künstliche Intelligenz hätte Marius weiter nur in Deutsch gesendet.

Weithin verfügbare neue Basis-Technologien in Verbindung mit menschlicher Kreativität haben die Macht, Wirtschaft und Gesellschaft für immer zu verändern. Was wird die Menschheit nun mit immer billigerer, immer besserer künstlicher Intelligenz tun? Ich denke, die folgenden 3 Videos geben einen Einblick in unsere Zukunft:
Holoportation: Online-Meetings besser als die Realität
Neue fernsehähnliche Geräte werden realistische Darstellungen von Menschen oder Avataren an anderen Orten und in anderen Geräten wiedergeben. Wenn diese Art der Darstellung zum neuen Standard für Remote-Meetings wird, könnte viel zusätzliche KI-Infrastruktur notwendig werden.
Beispiel YouTube-Video: Is Holoportation Tech The Future?
Metaverse: Auf allem liegt noch ein 3D-Bild
Sobald sich Augmented-Reality-Devices wie Brillen oder Kontaktlinsen weiter verbreiten, werden 3d-Grafiken mit der Realität verschmelzen, potenziell immer und überall. Auch diese Anwendung wird eine Menge zusätzlicher KI-Infrastruktur erfordern.
Beispiel YouTube-Video: Hyper-Reality
Humanoide Roboter: KI die sich nicht im Rechenzentrum versteckt
Irgendwann werden physische Roboter auf den Markt kommen. Sie müssen ihre Umwelt ständig wahrnehmen und mit ihr intelligent interagieren. Auf diese Weise werden sie sich selbst zu einer Art Edge-KI-Infrastruktur entwickeln.
Beispiel YouTube-Video: Inside big tech's A.I. robot race
Mehr Chips, mehr Rechenzentren und mehr Energie
Zusammengefasst: Künstliche Intelligenz ist eine neue Basis-Technologie, welche die Grenzkosten menschlicher Kognition senkt. In einer ersten Welle wird dies einige Arbeitsplätze ersetzen, aber in einer zweiten Welle wird es zu einer unvorstellbaren Welle von Innovationen führen.
Vorstellbar hingegen sind die Folgen dieses Wachstums für die KI-Infrastruktur in Deutschland und Europa: Wir werden einfach exponentiell mehr davon benötigen. Mehr Effizienz, mehr Chips, mehr Rechenzentren, mehr Energie, bessere Netze. Kurz gesagt, mehr von allem, was mit der KI-Infrastruktur zu tun hat.

Schauen wir auf ausgewählte Beispiele aus dem Ausland, dann erhalten wir eine kleinen Ausblick auf die Herausforderungen:
- Microsoft reaktiviert das Atomkraftwerk Three Mile Island, um dessen Energie für KI-Rechenzentren zu nutzen.
- AWS investiert ebenfalls in neue Energieformen, in diesem Falle in kleine, modulare Kernreaktoren.
- Der nahe Osten entwickelt sich zu einem Hotspot für KI-Infrastruktur. Grund dafür ist die günstige Verfügbarkeit unterschiedlicher Energiequellen.
- NVIDIA hat die Bandbreite von Daten-Netzwerken als weiteren Engpass ausgemacht, insbesondere für das Training von Modellen.
Gemeinsam mit dem KI-Park schreiben wir von cloud ahead eine Reihe von Blogbeiträgen, um die Hypothese zu validieren, dass Deutschland nicht vorbereitet auf den KI-Boom ist. Wir werden die Nachfrage nach KI-Infrastruktur analysieren, die Herausforderungen von Chips, Rechenzentren und Energieversorgung diskutieren, physikalische und selbst gegebene Einschränkungen beschreiben und mögliche Lösungen für Europa und Deutschland suchen.
Dieser Artikel ist Teil einer 7-teiligen Zusammenarbeit von cloud ahead und dem KI-Park e.V. zum Thema 'Souveräne KI-Infrastruktur'.