Deutschlands digitale Wettbewerbsfähigkeit war nie besonders hoch. Im globalen Ranking des IMD ist Deutschland 2023 um weitere 4 Plätze auf Rang 23 zurückgefallen. Mit Mark Neufurth möchten wir die Ursachen ergründen und mögliche Maßnahmen diskutieren.
Zur Person
Mark Neufurth ist Lead Strategist Marketing bei IONOS SE. Mit 25 Jahren Erfahrung im Produktmanagement und bei der Vermarktung von Internet- und Cloud-Services gehört er zu den Urvätern der deutschen Cloud-IT. Seit 10 Jahren konzentriert er sich auf den Markt für Unternehmenscloud-Infrastrukturen. Dabei prägt er die Konzernstrategie des B2B-Geschäfts maßgeblich mit, wenn es gilt Märkte zu erschließen und wirtschaftliche, juristische und politische Trends einzuschätzen.
Gregor: Wie ist es aus Deiner Sicht um die digitale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen bestellt?
Mark: Der Großteil des deutschen Bruttosozialprodukts wird immer noch vom produzierenden Gewerbe erwirtschaftet. Deutsche Unternehmen sind seit mehr als 150 Jahren sehr gut darin mit klassischer Ingenieurskunst perfekte Spaltmaßen zu erzielen, in nanometergenauer Steuerung von Fertigungsprozessen zu brillieren. Hardware-seitig passt also vieles. Leider fehlt uns zunehmend häufiger die Wettbewerbsfähigkeit bei der Software. Maschinensteuerung selbst können wir häufig noch gut, wenn es aber um attraktive Benutzeroberflächen, die Einbindung von Applikationen in eine von Schnittstellen geprägte IT-Landschaft, um skalierende Plattformgeschäftsmodelle oder um zügige produktive Nutzung von AI geht, dann hinken viele deutsche Unternehmen hinterher.
Allein mit der Produktion von ‘Hardware’ (Maschinen) wird es also nicht mehr gehen. Wer aber genau dieses Spiel beherrscht, der schafft es, bestehende Hardware geschickt um Software-Features zu erweitern. Und Software hat nun einmal deutlich geringere Grenzkosten. Außerdem steigt die Qualität der eigenproduzierten Hardware der asiatischen Produzenten zunehmend an, die Preise sind dabei vergleichsweise geringer; gleichzeitig jedoch zwingt die angespannte wirtschaftliche Situation Käufer von Hardware zu mehr Kostenbewusstsein.
Gregor: Trifft die Analyse auch auf unser Aushängeschild, den Mittelstand zu?
Mark: Unser Mittelstand ist in der Tat nach wie vor unser Aushängeschild; zu einem nicht geringen Anteil genau eben aber auch Teil des produzierenden Gewerbes. Viele dieser Unternehmen sind sehr erfolgreich geworden durch eine extreme Nischenstrategie, gepaart mit starkem Fokus auf China als Absatzmarkt. Sie stehen also vor der Herausforderung einer Mehrfachtransformation: Neue geografische Märkte erschließen, im Markt um die Fachkräfte bestehen, Software- und Plattformbusiness erlernen und darüber hinaus neue digitale Geschäftsmodelle erschließen. Hinzu kommen die Herausforderungen fortlaufend neuer rechtlicher Vorschriften, die den IT-Sektor immer stärker regulieren.
"Die Finanzierung über Fremdkapital behindert die digitale Transformation des Mittelstands."
Nicht zuletzt stehen sie häufig vor einem Generationenwechsel in der Führungsetage. Die Erb:Innen denken sich dann: Möchte ich mir den Stress wirklich antun? Behindernd in einer solchen Situation wirkt auch die im Mittelstand übliche Finanzierung durch Fremdkapital. Denn es gibt nichts risikoscheueres als Banken, und die Transformation eines Geschäftsmodells in Richtung Software und Plattformen ist voll von Risiken.
Gregor: Was genau ist so schwierig an Software?
Mark: Viele der jetzt schon bestehenden Softwares im Mittelstand basieren auf alten Programmiersprachen und Architektur-Paradigmen, sind kaum dokumentiert und dann noch allzu oft in deutscher Sprache geschrieben bzw. dokumentiert. Auf eine Stelle, diese Software zu pflegen und weiterzuentwickeln bewirbt sich praktisch niemand, vor allem nicht in der ‘Provinz’.
"Am Ende kommt dann etwas heraus, was in der Welt der Digital Natives nicht besteht."
Außerdem sind weder Hierarchie noch Prozesse dieser Unternehmen auf die Bedürfnisse von Software-ExpertInnen ausgerichtet. Tech-Entscheidungen werden häufig zu weit oben in der Hierarchie entschieden, die Kultur ist oft nicht agil, die Organisation weiß gar nicht, was cross-funktional im Kontext von Software bedeutet. Auch fällt es vielen Managern schwer, statt 6 Jahre die perfekte Software zu planen, lieber schnell zu beginnen und ein späteres Refactoring [engl.: Überarbeitung von Code und Architektur] in Kauf zu nehmen. Hinzu kommt, dass agile Softwareentwicklung in einem ausschließlich englischsprachigen Umfeld eine besondere Herausforderung an den Mittelstand.
Am Ende kommt dann etwas heraus, was in der Welt der Digital Natives nicht besteht. Und gerade in den internationalen Zielmärkten unseres Mittelstands wird das immer wichtiger. Kann der Gabelstapler Over-The-Air-Updates; können Einzelfunktionen der Maschine im laufenden Betrieb modifiziert werden? Wie steht es um den Rückfluss der Betriebsdaten? Ist die Oberfläche neuer Maschinen einfach und intuitiv bedienbar? Werden häufig neue Features released? Ist eine Einbettung per App in Android und iOS vorgesehen? Hat Software APIs, damit eine Nutzercommunity wertstiftende Funktionen anbauen kann?
Gregor: Welche Rolle kann da die Cloud spielen?
Mark: Viele Mittelständler haben noch einen eigenen Serverraum. Vor 10 Jahren mit den damaligen Cyberrisiken und reinen Hardware-Geschäftsmodellen hat das auch gereicht. Heute aber sind die Anforderungen sowohl an die Technik und als auch hinsichtlich der IT-Sicherheit deutlich größer. Und möchte ich in einer globalen Nische weltweit Software-ergänzte Produkte anbieten, dann geht das nur mit der Cloud, schließlich muss ich die Software aus Gründen der Latenz nah an den Kunden bringen bzw. unbedingt geografisch redundant aufstellen und für Disaster Recovery vorbereiten . Wir Cloud-Anbieter helfen den Mittelständlern also dabei, sich zu fokussieren auf ihr Kerngeschäft, ihren Mehrwert in eben ihrer Nische. Die globale Infrastruktur, um die neuen Geschäftsmodelle weltweit zu bedienen, die können sie bei uns unter Verzicht auf den riskanten Invest eigenen Kapitals mieten.
Gregor: Jetzt sind die digitalen Herausforderungen, vor denen die Unternehmen stehen, ja hinlänglich bekannt. Die Lösungen dazu werden seit Jahren an deutschen Universitäten gelehrt. Da könnte man doch sagen: Es gibt den freien Markt. Wenn sich der Mittelstand da nicht schnell genug anpasst, geht er halt unter. Das schafft Raum für junge Entrepreneure.
Mark: Tja, wenn das Neue dann einfach mal so entstünde, die richtigen Rahmenbedingungen fände, die nötige Anschubfinanzierung auf der Straße läge. Wir in Deutschland haben da einige Faktoren, die gegen uns sprechen. Im internationalen Vergleich weniger Unternehmergeist, da einerseits das soziale Ansehen nicht wirklich gut ist und ein Scheitern nach einer Unternehmensgründung stigmatisiert sowie eine stark föderale und dezentrale Aufstellung der Wirtschaft. Auch lernen Schüler bei uns unglaublich wenig über Wirtschaft und vergleichweise wenig über Informatik. Und zuletzt: Wir haben in Deutschland, gerade im Mittelstand, zu wenig Investitionsbereitschaft ins Blaue hinein‘, was ich angesichts der zuvor erwähnten Bedingungen auch nachvollziehen kann. In angelsächsischen Ländern weiß man: Wenn ein einziges digitales Geschäftsmodell wirklich funktioniert, dann skaliert es derart, dass es 5 gescheiterte Versuche mitfinanzieren kann. Diese Einstellung, die haben wir einfach nicht.
"Der Mittelstand muss ja weiter Milch geben"
Daher gilt: Das Alte darf nicht willkürlich Zugrunde gehen, jedoch muss es sich weiterentwickeln. Das ist auch im Interesse des Staates, denn der Mittelstand muss ja weiter ‚Milch geben‘, Steuern erwirtschaften bzw. Menschen beschäftigen, die Steuern zahlen.
Als letztes dürfen wir auch nicht vergessen, dass wir uns in einem Systemwettstreit mit den Autokratien dieser Welt befinden. Da können wir nicht durch eine 10jährige Durststrecke mit Arbeitslosigkeit und gesellschaftlichem Niedergang gehen. Das würde böse enden. Die Menschen würden einem demokratischen Gemeinwesen schlicht nicht mehr vertrauen.
Gregor: Wir schlittern in eine Rezession, was müsste in Deutschland jetzt passieren?
Mark: Ich halte eine gezielte Förderung des Mittelstands zur Beschleunigung seiner digitalen Transformation für sehr sinnvoll. Und der Einwand möglicher Bevorzugung darf hier nicht eingebracht werden, denn wer einen großen Anteil Steuern zahlt, muss aus Eigeninteresse des demokratischen Staatswesen erhalten werden. Nur, das was ich an Förderprogrammen sehe, ist nahe am Irrsinn: Einerseits gibt es unglaublich viele kleinteilige, aufwändig zu beantragende Förderprogramme verschiedener Institutionen, die sich von Bundesland zu Bundesland unterscheiden. Da brauche ich quasi einen Förderberater sowie eigene Fördermittel, um nur den Zeitraum der Fördermittelbeantragung durchzuhalten. Andererseits ist das Risiko von Fehlanreizen sehr hoch, was die Mittelgeber mit viel Bürokratie zu vermeiden suchen. Das ganze ist zudem an viel Nachweispflicht gebunden; ein Aufwand, der die vergleichsweise geringe Fördersumme nicht rechtfertigt.
Ich glaube, wir müssen hier beim Eigenkapital ansetzen.
"Der Staat sollte den Unternehmen anbieten, sich mit Eigenkapital zu beteiligen"
Gregor: Wie müsste so ein Programm aussehen?
Mark: Ich bin jetzt mal ganz kühn und denke nicht zuerst vom Problem her: Der Staat sollte den Unternehmen aktiv anbieten, sich bei ihnen mit nicht stimmberechtigten Eigenkapital zu beteiligen, mit ins Risiko der digitalen Transformation gehen – und natürlich auch von den Chancen profitieren. Jeder Mittelständler, der keinen oder nur unzureichenden Zugang zum Kapitalmarkt hat, der aber in Deutschland Steuern gezahlt hat, also steuerpositiv war in der Mehrzahl der letzten 10 Jahre, hätte somit unkompliziert Zugang zu neuem Eigenkapital. Diese benötigt er, um Software, um Plattformen, um digitale oder hybride Geschäftsmodelle zu lernen. Der Staat dürfte natürlich nur einen begrenzten Anteil erwerben, vielleicht 5 oder 15%; gleichzeitig müsste ein Stimmrecht entfallen damit die Unternehmen nicht Opfer von Ideologie oder Parteipolitik würden. Ich würde außer dem weitgefassten Auftrag zu ‘digitalisieren’, wenige Vorgaben machen; Subventionen klassischer Art sind ja auch nicht im Detail geregelt.
Natürlich wären nicht alle Investments erfolgreich, einige Unternehmen würden dennoch scheitern, aber ich glaube fest daran: Über 5-10 Jahre würden die Anteilsverkäufe oder zwischenzeitlich ausgeschütteten Gewinne aus den erfolgreich transformierten Geschäften den staatlichen Invest in gescheiterte Projekte überkompensieren.
"Erfolgreiche Beispiele für derartige, transformative Beteiligungen gibt es genug."
Jetzt bin ich weder Jurist noch Politiker, kann somit nichts Definitives zur Machbarkeit sagen. Aber Vorbilder von derartigen transformativen Beteiligungen gibt es national und international genug: Fanny Mae, die Rettung der Investment-Banken in den USA, Airbus und Lufthansa in der Corona-Krise.
Zusätzlich vorstellbar wäre auch eine Art „Fund of Funds“, wie er in kleinem Format mit dem Wachstumsfond Deutschland schon probiert wird. Auf diese Weise könnte man das europäische Ökosystem für Wagniskapital stärken. Diese Fonds könnten auch mehr als 5 oder 15% der Unternehmen übernehmen und mit mehr Know-how strategisch führen.
Gregor: Spannend. Allerdings sind die meisten Corporates im Rahmen der Digitalisierung vom eigenen Rechenzentrum zu den amerikanischen Hyperscalern gegangen. Kaufen wir uns dann nicht digitale Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten digitaler Abhängigkeit ein?
Mark: Natürlich wäre das auch ein großes Konjunkturprogramm für die US-Clouds. Aufgrund ihrer Marktstellung, ihres Partnernetzwerks und ihres Portfolios würden diese überproportional profitieren. Aber: Jede Digitalisierung ist besser als keine Digitalisierung. Auch jene, von denen die Amerikaner profitieren. Und Confidential Computing ist eh im Aufschwung gerade. Die Aussage mag überraschen, ich repräsentiere nebenher ja deren Wettbewerber, aber Konkurrenzdenken bringt hier keinen weiter.
"Jede Digitalisierung ist besser als keine Digitalisierung."
Man könnte vielleicht versuchen, die Hyperscaler auf dem Weg dazu zu bringen, in Deutschland oder Europa gerne Steuern zahlen zu lassen.
Gregor: Wie würdest du sicherstellen, dass die Fördermilliarden auch den Aufbau europäischer Cloud-Player fördern?
Mark: Deutsche und europäische Clouds sind lokale Anbieter, wir sind auf Augenhöhe mit dem deutschen Mittelstand, wir verstehen besser, wie er tickt. Auch müssen wir keinen anderen Rechtsordnungen dienen oder globalen Wachstumsfantasien genügen und One-size-fits-all Clouds finanzieren, die exorbitante Gewinnspannen erzielen müssen. Wir bauen auch nicht die erfogreichen Geschäftsmodelle unserer Kunden nach und haben keine Plattform-Macht, die wir missbrauchen könnten. Aus Sicht kleiner und mittelgroßer Unternehmen in Deutschland spricht also einiges für uns.
Aber nochmal: Uns geht es um die Digitalisierung der deutschen Schlüsselindustrien, um die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschlands. Ein investierter Euro in den Mittelstand sind ein paar Cent für heimische Cloud-Anbieter, die hierzulande wiederum Steuern zahlen.
"Ich wünsche mir also die Lockerung der Schuldenbremse ausschließlich für Investitionen in genau bestimmte Bereiche."
Gregor: Zum Abschluss noch eine persönliche Frage. Was würdest Du Dir für den Digitalstandort Deutschland wünschen?
Mark: Ich persönlich! wünsche mir die Lockerung der Schuldenbremse ausschließlich für Zukunfts-Investitionen in fest definierte Bereiche wie Verkehrsinfrastruktur und Digitalisierung, Bildung und ein paar mehr.
Alle anderen großen Regionen rennen froh und mutig in die Verschuldung. Wenn wir hier nicht einsteigen in Zukunftsthemen wie digitale Souveränität, sinnvolle wirtschaftliche Transformation und künstliche Intelligenz, dann verlieren wir nicht nur den Wettbewerb gegen die USA und China, dann verlieren wir auch unsere Bürger.
Des Weiteren wünsche ich mir eine Zentralisierung der Digitalisierung in Deutschland. Es ist für mich nicht verständlich, warum bspw. für den exakt gleichen Use Case dutzende unterschiedliche Lösungen auf kommunaler Ebene eingesetzt werden; die Neugestaltung der federführenden Entwicklung von Software durch einen Tenant im öffentlichen Sektor gibt es ja noch nicht lange.
Als drittes, glaube ich, müssen wir drastisch entbürokratisieren. Wir sehen, welchen Boom es beispielsweise bei Balkonkraftwerken gibt, seit die Regelungen vereinfacht wurden. Gleiches gilt auch beim Aufbau digitaler Infrastruktur. Wir sollten uns davon frei machen, dass Zukunft ohne Risiko erlebt werden kann.
Als letztes wünsche ich mir eine Änderung des Lehrplans. Wir brauchen meines Erachtens viel mehr Informatik auf dem Stundenplan; zudem Fächer, die wirtschaftliche Kompetenz vermitteln. Anwenderkenntnisse hat die Generation TikTok genug, aber alle jungen Leute brauchen ein Mindestwissen für die digitalen und wirtschaftlichen Zusammenhänge.