Macht Open-Source souverän oder autark?

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13.09.2024
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6 min Lesedauer
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„Souveränität geht nur mit Open-Source“ schreibt ComputerBild im Mai diesen Jahres. „Wer nur auf proprietäre Lösungen setzt, kann schnell in die Abhängigkeit rutschen.“ heißt es. Das Linux-Magazin warnt im Juni 2024, es könne noch schlimmer kommen „[…] wenn der Mann mit dem Machogehabe die US-Präsidialwahlen gewinnt […]“.

Die beiden Szenarien, auf welche die Publikationen anspielen, sind klar und lassen sich mit bekannten Beispielen unterlegen. VMware etwa nutzte seine Marktmacht als Anbieter von proprietärer Virtualisierungssoftware aus, um starke Preiserhöhungen praktisch ohne Gegenwehr durchzusetzen. In den Fällen Github/Russland und Adobe/Venezuela demonstrierten die USA, wie sehr sie bereit sind, ihre Macht über US-Software- und Service-Anbieter für politische Interessen zu nutzen.

Souveränität scheint so einfach

Die Logik der Open-Source-Fans ist so einfach wie bestechend: Sobald jegliche Software offen einsehbar und frei nutzbar ist, verschwinden jegliche Abhängigkeiten genauso wie Schwachstellen im Code. Weder Trump noch VMware, weder schlechter Code (z.B. Solarwinds) noch schlechte Ausführung (z.B. Crowdstrike), könnten Europa etwas anhaben. Digitale Souveränität scheinbar pur.

cloudahead Wir Verwechseln Souveraenitaet Mit Autarkie

Aber fände Europa auf diesem Wege wirklich zur digitalen Selbstbestimmung? Einen Hinweis auf die Antwort gibt Claudia Plattner, Präsidentin des BSI: „Wir verwechseln Souveränität oft mit Autarkie“. Diese wichtige Differenzierung der Begriffe stammt vom Bitkom aus dem Jahre 2015. Die Kurzfassung lautet:

  • Souveränität: Wir entscheiden selbst, was wir tun. Wir nutzen dafür eigene Technologien, managen aber auch Partner.
  • Autarkie: Wir machen alles selbst. Wir nutzen eigene Technologien, auch wenn diese weniger leistungsfähig sind.

Selbstbestimmung im digitalen Raum bedeutet also nicht nur, Abhängigkeiten zu kontrollieren und sich vor dem bösen Willen Dritter zu sichern. Digitale Selbstbestimmung erfordert auch digitale Leistungsfähigkeit. Noch kürzer gesagt: Souveränität ist Kontrolle UND Leistungsfähigkeit. Autarkie hingegen ist: Kontrolle VOR Leistungsfähigkeit.

cloudahead Spektrum Der Souveraenitaet Nach Bitkom

Die Forschungsfrage dieses Artikels nun lautet: Führt der konsequente Einsatz von Open-Source-Software zu mehr digitaler Souveränität in Europa?

Wir leben in einer Software-Ökonomie

Deutschland betrauert fast täglich den Niedergang der klassischen, industriellen Wertschöpfung. Im Schatten aber ist eine wunderbare, neue Welt entstanden: Ich nenne sie die Software-Ökonomie. Wie sieht sie aus? Ungefähr so:

cloudahead Die Software Oekonomie

Hundertausende Software-Libraries werden in hunderten Software-Development-Kits (SDKs) kombiniert und in Millionen von Depositories zu nützlichen Softwares verarbeitet. Diese liegen auf zehntausenden Cloud-Infrastrukturen und stiften auf mehreren Milliarden Endgeräten unglaublichen, volkswirtschaftlichen Nutzen. Alles Software, alles Worte, alles vom Menschen kontrollierbar.

Es gibt 13 Mio. relevante Softwares auf dieser Welt

Wie groß nun ist dieses Universum? Mir ist keine Statistik bekannt, aber qualifizierte Schätzungen sind relativ einfach: GitHub hat einen Marktanteil von 80% und führte im Jahr 2024 etwa 420 Millionen Repositories. Diese kann man sich vorstellen wie Aktenordner, in welche die Software-EntwicklerInnen ihren Code ablegen. Ich nehme einmal an, dass jede Software etwa 10 Repositories führt und etwa 25% dieser Softwares überhaupt für die Software-Ökonomie relevant sind. Es ergeben sich also etwa 13 Mio. Softwares weltweit.

cloudahead Wie Gross Ist Der Globale Software Stack

Die Menschheit hat 350 Mio. Personenjahre daran entwickelt

Diese Softwares selbst sind das Ergebnis der Arbeit der Software-EntwicklerInnen dieser Welt. GitHub meldete im Jahr 2023 etwa 100 Millionen Menschen als NutzerInnen auf der eigenen Plattform – mit einem Marktanteil von 80%. Nehmen wir an, dass deren Menge seit 1980 exponentiell angewachsen ist und etwa 50% ihrer Zeit auch wirklich in Code floss, dann ergeben sich daraus 350 Millionen kumulierte Personenjahre. Das entspricht etwa 27 Personenjahren je Software.

Würde man also den globalen Software-Stack dieser Welt neu bauen wollen, bedürfte dies etwa 35 Millionen Software-IngenieurInnen für 10 Jahre. Könnte passen.

cloudahead Wie Viel Zeit Steckt Im Globalen Software Stack

12% dieser Softwares sind Open-Source

Wieder hilft uns GitHub mit Zahlen. Laut der Plattform gab es im Jahr 2022 etwa 3,5 Milliarden Contributions, 413 Millionen davon zu Open Source. Eine „Contribution“ bedeutet, dass ein/e Software-Entwickler/in einen Aktenordner (Repository) herausholt, etwas hineinschreibt oder ändert und wieder in den Schrank stellt.

Nehmen wir also an, dass proprietäre und Open-Source-Software in etwa gleich häufig Beiträge empfangen, beträgt der Open-Source-Anteil in dieser Welt etwa 12%, also 1,56 Millionen Softwares.

cloudahead Wie Viel Open Source Software Gibt Es

Wofür diese ganze Übung? Wir wissen in etwa wie viele Softwares es gibt (~13 Millionen), wie viel Entwicklungsaufwand darin steckt (~350 Personenjahre) und wie viele davon schon Open-Source sind (~12%). Jetzt können wir einfach ausrechnen, was es kosten würde, den Anteil der Open-Source-Softwares signifikant zu erhöhen.

Was würden 10 % mehr Open-Source-Softwares ökonomisch bedeuten?

Das Gedankenspiel lautet: Wir beschließen als Gesellschaft den Anteil der Open-Source-Softwares von 12% auf 22% zu erhöhen. Wir müssen demnach circa 1,3 Millionen Closed-Source-Softwares ersetzen. Etwa die Hälfte dieser proprietären Anwendungen müssten wir neu bauen, also 27 Personenjahre Entwicklungsaufwand investieren. Die andere Hälfte könnte durch Migration auf bestehende Open-Source-Softwares „befreit“ werden. Um die Qualität der vielen neuen Open-Source-Projekte sicherzustellen, müssten wir noch in etwa 10% aller OS-Projekte durch ein Konstrukt wie den Sovereign-Tech-Fund supporten.

Nach meinen Berechnungen ergäbe diese Migration einen Aufwand von etwa 25 Millionen Personenjahren (PJ). Bei etwa 100.000 Euro Vollkosten je Software-EntwicklerIn entspräche dies einem finanziellen Investment von 2.500 Mrd. Euro. Europas Software-EntwicklerInnen wären somit für einige Jahre vollausgelastet.

Die Software-Ökonomie wird unterschätzt

Diese Überschlagsrechnung ist vom Schlag einer Bewerbungsfrage bei BCG und McKinsey. Es lässt sich also über vieles diskutieren: Geht wirklich 50% der Zeit von Software-EntwicklerInnen in das Schreiben von Code? Würde AI nicht den Rebuild viel schneller machen? Warum wurde die Zeit von ProjektleiterInnen und Produkt-ManagerInnen in dieser Rechnung so sträflich missachtet?

Vieles aber ist sicher: Die Software-Ökonomie insgesamt ist gigantisch. Der Beitrag der Open-Source-Gemeinde allein ist es auch: Laut dieser Rechnung haben die 1,56 Millionen Open-Source-Softwares einen Mindestwert von 4.200 Milliarden € (27 PJ * 100k€/PJ).

Open Source alleine macht autark, nicht souverän

Nun zurück zur Forschungsfrage: Führt der konsequente Einsatz von Open-Source-Software zu mehr digitaler Souveränität? Wir erinnern uns, Souveränität ist Leistungsfähigkeit UND Kontrolle. Bei Autarkie geht es um Kontrolle VOR Leistungsfähigkeit.

Im oben genannten Szenario des konsequenten Einsatzes von Open-Source-Software würden wir Europas Software-EntwicklerInnen einige Jahre voll auslasten. Sie würden Softwares erstellen, die es schon gibt (nur eben in den USA), nur damit wir (in Europa) die volle Kontrolle über den Code erlangen. Was aber würden Europas Fachkräfte in dieser Zeit nicht tun? Celonis weiterentwickeln, SAPs Marktposition festigen oder neuen Startups zum Wachstum verhelfen.

cloudahead Open Source Macht Autark Nicht Souverän

Neben jenen 2.500 Milliarden Euro Investments, die jemand aufbringen müsste für die Software-Wende, würde Europa noch enorme Opportunitätskosten stemmen: Die EntwicklerInnen erzeugen nichts Neues. Mit dem Milliarden-Investment entsteht auch kein neuer Hyperscaler oder gar eine AI. Das hier geschilderte Szenario wäre das Musterbeispiel von Autarkie: Kontrolle VOR Leistungsfähigkeit.

Was würde Europa souverän machen?

Aber die Lage ist nicht hoffnungslos, im Gegenteil. Wer wissen will, was Europa wirklich helfen würde, muss sich einmal anschauen, wie die geopolitischen Konflikte dieser Welt tatsächlich ablaufen. Trump etwa belegte Europa im Jahr 2018 mit Strafzöllen auf Aluminium und Stahl. Wie reagierten wir? Mit Zöllen auf Whiskey und Harley-Davidsons. Warum sitzt Europa im geopolitischen Thriller um die Herrschaft in der Chip-Industrie überhaupt noch am Tisch? Wegen ASML und Zeiss.

Mehr Open-Source-Softwares (OSS) also können helfen, einige Abhängigkeiten zu lösen. Die Software-Ökonomie aber ist derart gigantisch, dass dieser Ansatz allein schon bei wenigen Prozentpunkten mehr OSS nicht mehr finanzier- und umsetzbar ist. Viel entscheidender für unsere Wehrhaftigkeit im Kampf um Selbstbestimmung in der digitalen Welt ist es, eigene Trümpfe in der Hand zu haben. Assets wie ASML & Zeiss, SAP & Celonis.

Das Muster: Wenn ihr uns die Cloud abstellt, stellen wir euch die Buchhaltung ab. Also lasst uns vernünftig sein!

cloudahead Wie Wird Europa Souveraen

Achja, und lokal-europäische Wertschöpfung der US-Firmen hier in Europa hilft natürlich auch. Beispiele hierfür sind etwa die voll lokal betriebenen Clouds von Microsoft, Oracle, AWS und Google. Die könnten wir, nach dem Vorbild der Putin´schen Gasspeicher, im Krisenfall immerhin konfiszieren.


Dieser Artikel entspricht einem Vortrag, den ich auf dem Forum Open Source des Bitkom am 12.9.2024 in Erfurt gehalten habe.

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