Deutschland und seine Verwaltung müssen sich digitalisieren, das ist seit Jahren Konsens. Deutschland ist ein Föderalstaat. So steht es in der Verfassung und so ist es unsere Kultur seit den Cheruskern, Langobarden und Markomannen. Wie aber lässt sich beides zusammenbringen?
Mit Standardisierung zur Digitalisierung
Die Antwort auf diese Frage lautet heute: Der IT-Planungsrat. Dessen Idee klingt erst nachvollziehbar: Digitalisierung ist eine Herausforderung für den öffentlichen Dienst in Deutschland auf allen Ebenen. Also lasst uns unserer Kräfte bündeln. Wir koordinieren uns und standardisieren unsere Dienste. Sobald wir uns geeinigt haben, wird nicht nur die Digitalisierung in Deutschland Fahrt aufnehmen, wir sparen durch die Wiederverwendbarkeit aller Ebenen auch enorme Kosten.
Kurz zusammengefasst steht es auf der Webseite des Gremiums: „Der deutsche IT-Planungsrat verbindet die Akteure, schafft einheitliche IT-Standards“ und setzt auf „den Konsens aller Beteiligten“.
Eine edle Idee also, leider beruht diese auf drei fundamentalen Fehlannahmen.
Fehl-Annahme 1: Technologischer Fortschritt wartet auf Deutschland
Harald Joos hat es im Interview mit cloud ahead sehr schön beschrieben: Viele Technologiewellen hat die deutsche Verwaltung gut mitgenommen. Teilweise waren wir sogar führend: Mechanische Röhrensysteme unter Berlin (und heute noch im Kanzleramt). Die Einführung von Mainframes und die Umstellung auf Client-Server-Technologie. Alles das hat funktioniert.
Aber seit der Technologiewelle ‚Cloud & Mobile‘ sind wir abgehängt. Über die Ursachen kann man diskutieren, aber Fakt ist: Wir haben sie verschlafen. Irgendwann dann wachten wir auf und versteiften uns auf die Idee mit der konsensualen Standardisierung mit Hilfe des IT-Planungsrats. Im Grunde haben wir damit eine Art „theoretische Digitalisierung“ erfunden.
Alle anderen hingegen digitalisieren praktisch. Erst waren es die KonsumentInnen und BürgerInnen, dann die Privatwirtschaft und die Cyberkriminellen. Die Digitalisierungstheoretiker des deutschen IT-Planungsrates hingegen bleiben weiterhin auf der Suche nach einem deutschen Digitalisierungs-Standard. Ernsthaft?
Cloud als Infrastruktur-Standard unseres digitalen Handelns ist gerade einmal 20 Jahre alt. Kubernetes als Standard im Cloud-Betrieb ist 10 Jahre alt. Zwischendrin wurde Nokia zum Standard in der Telefonie. Nur um kurze Zeit später von Apple und Google, mit ihren Standards Android und iOS abgelöst zu werden. Microsoft lieferte mal den Standard für PC-Betriebssysteme, häutete sich und nutzte seine Standards für Office-Anwendungen und Identity-Management, um praktisch alle Corporates in seine Cloud zu ziehen. Eine Cloud, die sich immer an AWS-Standards messen muss. Achja: Seitdem kam und ging Crypto. AI, die nächste Megawelle, ist auch schon über uns gerollt. Offen ist nur noch die Frage, was schneller kommt: Kernfusion, Quanten-Computing, AGI oder wirksame Standards des IT-Planungsrats.
Der erste Grund also, warum der IT-Planungsrat nicht funktionieren kann, ist: Wir leben in einer Zeit exponentiellen, technologischen Wachstums. Bis derart viele Akteure eine sinnvolle, gemeinsame Lösung zum Umgang mit Technologie theoretisch ausgehandelt haben, hat sich die zugrundeliegende Technologie schon derart geändert, dass die Lösung für die Praxis nichts mehr taugt.
Fehl-Annahme 2: Deutschland funktioniert zentral
Deutschland ist ein föderaler Staat. Mehr noch: Wir Deutschen sind kulturelle Föderalisten. Während französische Herrscher sich seit Karl dem Großen Jahr um Jahr mehr zentrale Macht sicherten, gaben deutsche Kaiser immer mehr Macht ab.
Ein gutes Beispiel für unsere föderale Denke ist der Westfälische Friede (1648). Er kam, nach einem 5-jährigen (!) Friedensprozess, vor allem deshalb zustande, weil er das Prinzip erfand, alle Fürstentümer gleich zu behandeln, egal wie mächtig sie tatsächlich waren.
Im Geiste dieser Idee wurde auch der IT-Planungsrat konzipiert. Nun könnte man sagen der Westfälische Friede sei ein gutes Vorbild, schließlich habe er den 30-jährigen Krieg beendet. Nur geht es glücklicherweise bei der deutschen Verwaltungs-Digitalisierung nicht um Krieg und Frieden. Es geht darum, BürgerInnen und Unternehmen exzellente Verwaltungsdienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Vielleicht geht es auch um die Automatisierung der Verwaltungsprozesse, also darum, mit weniger BeamtInnen, bessere Leistungen zu erbringen.
Der zweite Grund also, warum der IT-Planungsrat nicht funktionieren kann, ist: Wir leben nicht in einem Zentralstaat wie Frankreich. Dort entscheidet ein starker Präsident praktisch alles, Opposition gibt es durch gelegentliche Volksaufstände in gelben Westen. Wir leben in Deutschland, wir haben die Opposition in unseren Gremien.
Fehl-Annahme 3: Gute Digitalisierung ist zentral
Der dritte Irrtum basiert auf einem fundamentalen Unverständnis der Digitalisierung. Mit Hilfe des geschickten Einsatzes von Cloud-Technologien im Zusammenspiel mit Software können Einzelpersonen oder kleinste Teams unglaublich wirksam sein.
Linus Torvalds programmierte Linux „as a hobby“ neben seiner Arbeit. Viele Schlüsseltechnologien (siehe Bild) werden durch wenige ExpertInnen geschaffen und am Leben erhalten.
Instagram schuf mit 8 MitarbeiterInnen (Entwicklung, Design, Produkt-Management, Community Management und Betrieb) eine globale App mit 30 Millionen NutzerInnen. Deepl schuf mit weniger als 1M€ Investment und 22 Mitarbeitenden eine AI, die 16 Sprachen übersetzte. Midjourney schaffte es mit 10 Mitarbeitenden, die globale Kreativ-Branche zu disruptieren. Corona-Apps können schnell und gut für 5 M€ entwickelt werden.
Für nichts davon benötigt es “politische Steuerung“ von neuen “einheitlichen Standards“. Um Verwaltungsleistungen zu digitalisieren benötigt es kleine Teams, die agil und cross-funktional an NutzerInnen-zentrierten Lösungen arbeiten. Es benötigt den Mut zu experimentieren und schnelle, dezentrale Entscheidungen.
Kurz zusammengefasst: Digitalisierung ist föderal, auch hier herrscht das Subsidiaritätsprinzip. Denn für alles andere, können sich föderale Teams aus dem wunderbaren Katalog der IT bedienen. Instagram nutzte AWS, aber es gibt auch gute deutsche Clouds. Container-Services helfen bei der Interoperabilität und vereinfachen den Wechsel zwischen den vielen Clouds. Für fachliche Services wie Payments oder Datenaustausch gibt es APIs. Für Wiederverwendbarkeit und Souveränität sorgen die unglaublich vielen Open-Source-Werkzeuge.
Der dritte Grund also, warum der IT-Planungsrat nicht funktionieren kann, ist: Der Rat geht von falschen Grundannahmen bei der Digitalisierung aus. Begeisternde, digitale Services erreicht man nicht durch gemeinsame Strukturen, zusätzliche IT-Standards und zentralen Konsens. Im Gegenteil, der Schlüssel für den digitalen Erfolg ist föderales Denken und Handeln: NutzerInnen-Fokussierung, cross-funktionale Team-Zusammensetzung, dezentrale Technologie-Kompetenz und Mut zum Ausprobieren.
Stärken stärken
Im zweiten Semester Betriebswirtschaft hatte ich einmal die Aufgabe, eine SWOT-Analyse für BMW zu erstellen. Die anschließende Debatte drehte sich um die Frage, ob der Hochlohnstandort Bayern für das Unternehmen eine Stärke oder eine Schwäche ist. Die Antwort war: Das hängt davon ab. Wenn man Billigautos in Schwellenländer verkaufen will, ist es eine Schwäche. BMW aber entschied sich für eine Premiumstrategie und machte eine Stärke daraus.
Gleiches gilt für Deutschland und die Digitalisierung. Unsere Dezentralität ist eine riesige Chance. Markus Keller hat es in seinem LinkedIn-Beitrag so schön gesagt: „Deutschland mit seiner föderalen Vielfältigkeit böte für Digitalisierungslabore das ideale Biotop, wo unterschiedliche Ansätze gegeneinander verprobt werden könnten.“
Nur würde ich weitergehen als er: Wir brauchen keinen Universalstandard für Datenaustausch. Organisationen in der ganzen Welt tauschen sicher Daten aus, ohne dass UNO oder ISO hierfür eine Transportinfrastruktur geschaffen hätten.
20 Jahre Digitalisierung haben gezeigt: Standards entstehen durch Erfolg. Auch in deutschen Behörden wird es Innovatoren geben, welche die Probleme schneller und besser lösen. Diese werden sich mit der Zeit zum Standard entwickeln. Es wird Wettkämpfe um Standards und Koalitionen zwischen Ländern geben: Wer hat die bessere API für Finanzamtkommunikation? Wer bestimmt das Standard-Format für Klinikdaten? Föderalismus ist einer der wenigen Wege, den Staatsauftrag mit marktwirtschaftlichem Denken zu vereinbaren.
Natürlich werden auch einige föderale Akteure irgendwann feststellen: Mein SchönebergGPT war doch nix. Aber mein Vater hat in den 1980ern auch auf den falschen Video-Standard gesetzt und musste sich dann ein VHS-Gerät kaufen. So what?
Föderalismus ist etwas Wunderbares
Ich würde mir wünschen, dass wir in Deutschland mehr zu unseren Stärken stehen.
Südtirol hat in den 1950ern leidenschaftlich für mehr Autonomie gekämpft, seitdem floriert es. Spanien und Großbritannien führen lähmende Debatten um mehr Eigenständigkeit ihrer Provinzen. Wir in Deutschland haben diese Probleme nicht, weil wir einen institutionellen Weg gefunden haben, dem Bedürfnis unserer Regionen nach Eigenständigkeit Rechnung zu tragen.
Einzig nur fehlt uns die Erkenntnis, dass Föderalismus kein Hindernis für die Digitalisierung ist, sondern eine Chance. Lasst die Hamburger zeigen, dass sie so gut digitalisieren können, wie der gleich große Digitalisierungseuropameister Estland. Lasst Söder zeigen, dass er doppelt so gut digitalisiert, wie der halb so große Vize-Europameister Dänemark. Sind unsere Bundesländer dann auf dem Niveau unserer europäischen Vorbilder, dann verspreche ich: Die APIs für den Datenaustausch untereinander haben sie schnell gebaut.
Mein Vorschlag also: Löst den IT-Planungsrat auf. Steckt das Geld in die digitale Ausbildung insbesondere der Führungskräfte der deutschen Verwaltung. Entdeckt die digitalen Talente unter den BeamtInnen und gebt ihnen die Macht und die Mittel, die sie für die notwendigen Veränderungen benötigen.
Vielleicht nutzt dann demnächst die ganze Welt das BayernGPT.