In einer Netzwerkveranstaltung hatte ich die Gelegenheit, mich mit einer Führungskraft aus einem Bundesministerium über die Public Cloud zu unterhalten. Diese meinte: „Die Hyperscaler machen das super-geschickt. Wenn man einmal drin ist, kommt man nicht wieder raus.“
Gedacht habe ich: „Von wem wurdest du denn gebrieft?“. Geantwortet habe ich: „Wenn ich Ihnen das Thema auf meinem Blog aufbereite, lesen Sie ihn dann?“ Mit diesem ministeriellen Impuls nun versuche ich, gemeinsam mit unserem Cloud-Architekten Marcel Gocke, das Thema „Stickyness der Hyperscaler“ einmal zu ergründen.
Cloud vs. Hyperscaler
Beginnen möchten wir mit einer kurzen Verortung der Begriffe. Cloud bedeutet erst lediglich die Automatisierung der IT von der Bestellung bis zur Auslieferung. Jeder IT-Service, der über eine grafische Benutzeroberfläche (GUI) und/oder eine Programmierschnittstelle (API) automatisiert bestell- und lieferbar ist, kann sich somit „Cloud“ nennen (klassisch-technische Definitionen gibt es hier).
Diese Automatisierung trifft auf einfaches Hosting bei IONOS zu, auf mittelgroße Server-Hardware bei Metalstack.cloud und auf globale Pokemon Go Kubernetes-Cluster bei Google. Ist der IT-Service unbeschränkt zugänglich für alle, dann handelt es sich um eine Public Cloud. Ist die Nutzergruppe beschränkt, etwa auf Bundesbehörden, dann handelt es sich um eine Private Cloud.
Was aber unterscheidet einen Hyperscaler, neben der globalen Größe und eigenen Netzwerken, noch von einer einfacheren Cloud? In der Regel bieten beide die gleichen IT-Basisdienste wie Netzwerk, Rechenleistung, Speicher sowie Kubernetes-Dienste und einzelne Datenbank-Services an.
Unterschiede gibt es hingegen bei jenen Leistungen, die wir als „Komfort-Services“ bezeichnen. Die großen Clouds wie AWS, Google Cloud und Microsoft Azure bieten ein enormes Portfolio dieser Zusatzdienste.
Komfort vs. Eigenleistung
Die IT eines Unternehmens benötigt zwingend die bereits genannten IT-Basis-Dienste. Für eine gut funktionierende IT-Landschaft bedarf es allerdings vieler weiterer Komponenten: Einen Identity-Dienst zur Identifikation und Authentifizierung der AnwenderInnen, Workplace-Services zur Bereitstellung der Arbeitsplatz-IT, Applikationen und Prozesse zur Sicherstellung der Konzern-Governance, Anwendungen zur Erstellung und Bereitstellung von Management-Berichten, Services zur Ablage des Source-Codes und viele mehr. Schon mittelgroße Organisationen kommen leicht auf über 1000 solcher Anwendungen und Dienste.
Entscheidet sich ein Unternehmen nun für eine Cloud, die im Wesentlichen die IT-Infrastruktur anbietet, dann muss es die Zusatzdienste selbst aufbauen und betreiben. Migriert es dagegen in die Public Cloud eines Hyperscalers, kann es dort komfortabel auf die vorhandenen Dienste zugreifen und hat deutlich weniger eigenen Aufwand.
Nun versetzen Sie sich in die Rolle eines IT-Entscheiders. Hunderte von Zusatzdiensten selbst verantworten, ausgebildete Fachkräfte vorhalten, jeder Fehler jedes dieser Dienste kann das ganze Unternehmen lahmlegen: Welchen Weg gehen Sie? Eigenleistung oder weitverbreitete Standards der Weltmarktführer nutzen?
Der Erfolg der Public Clouds zeigt, dass die meisten CIOs und CTOs der Großunternehmen sich für die Public Cloud entscheiden. Die Ministerialperson hatte insofern recht: Man ist schnell drin in der Public Cloud. Und wenn man drin ist, kommt man schnell noch tiefer rein.
Jeder Service ist unterschiedlich klebrig
Aber wie schnell kommt man nun wieder heraus aus dem Public-Cloud-Ökosystem, und was benötigt es dafür? Gregor Hohpe (von AWS übrigens) beschreibt in seinem Artikel auf martinfowler.com mehrere Formen eines solchen Lock-Ins. Den sogenannten „Product Lock-In“ haben wir in Grafik 1 visualisiert.
Oben rechts befinden sich beispielsweise die „Enterprise Governance“-Features der Public Cloud. Damit steuern vor allem Konzerne, welche Personen welche Applikationen betreuen dürfen, in welcher Höhe sie dort Kosten erzeugen dürfen und wie diese Kosten intern zusammengefasst und weiterberechnet werden.
Ist diese Hinterlegung für mehrere Tausend Applikationen und Mitarbeitende erst einmal erfolgt, wird eine Migration in eine andere Cloud sehr aufwändig (X-Achse). Zudem gibt es kaum alternative Cloud-Provider, die vergleichbare Governance-Services bieten (Y-Achse). Die Abbildung genau dieser Governance ist jedoch für große Unternehmen strategisch überaus relevant (Größe der Bubble).
Viele Dienste der Public Cloud sind somit klebrig (siehe oben rechts), die klassische Cloud-Infrastruktur selbst jedoch nicht (siehe unten links). Dank Container-Architekturen und vieler alternativer Clouds sind Applikationen, die keine der Komfortdienste nutzen, einfach migrierbar.
Das Ökosystem ist besonders klebrig
Besonders „hinterhältig“ scheinen die Hyperscaler, weil sie für viele mögliche Herausforderungen der Enterprise-IT einen bequemen Service mit geringen Einstiegshürden vorhalten. Sie möchten ein Machine-Learning-Modell zur intelligenten Düngung von Feldern auf eine Drone aufspielen? Dafür haben wir Azure IoT Edge. Sie möchten Ihre Daten automatisiert klassifizieren? Nehmen Sie doch Microsoft Purview. Sie möchten ihre Satellitenkommunikation steuern? Da hätten wir AWS Ground Station. Einen Data Lake? Künstliche Intelligenz? Eine Call-Center-Lösung? Streaming-Services? Für alles und alle ist etwas da.
Und da Unternehmen in der Regel nicht existieren, weil sie IT selbst betreiben, sondern weil sie den Kunden ihrer Branche funktionierende Fachlösungen bereitstellen, nehmen Sie das freundliche Angebot der drei amerikanischen Clouds, sich auf ihr Kerngeschäft zu fokussieren, gerne an.
Mit einigen Jahren Erfahrung im Hyperscaler-Ökosystem nimmt die Abhängigkeit dann durch den „Skill Lock-in“ nochmals zu. Die mit zunehmendem Fachkräftemangel immer wertvolleren eigenen IT-ExpertInnen kennen sich immer besser in einem der Cloud-Ökosysteme aus. Die Mitarbeitenden, um ein paar Prozent Betriebskosten zu sparen, auf eine konkurrierende Cloud auszubilden würde Jahre dauern. Die wenigsten ExpertInnen sähen dies als persönliche Weiterentwicklung. Die meisten würden lieber das Unternehmen wechseln, als ihre wertvolle Spezialisierung zu verwässern.
Herzlich Willkommen im Platform Lock-In.
Wir können raus, wir wollen nur nicht.
Das Narrativ des Drogendealers ist schnell erzählt: Wer einmal drin ist in der Public Cloud, gerät schnell noch tiefer rein und kommt nur mit großen Mühen wieder heraus. Und nun noch erwähnen, dass die Public Cloud auch einmal die Preise erhöht.
Dennoch gibt es eine weitere Wahrheit, die sich am besten mit einem Blick in die Technologiegeschichte erzählen lässt: Eine fünfköpfige Familie gab in den 1980ern weniger als 20€ für Kommunikationsdienstleistungen aus. Im Kern bestand diese Summe aus der Monatsgebühr für den Festnetzanschluss sowie Einzelkosten für Ortgespräche (8 Pfennige/Minute) und Ferngespräche (60 Pfennige/Minute). Heutzutage dagegen hat jedes Familienmitglied ein eigenes Handy (mit Kosten für Hardware, Datenvolumen und Apps), es gibt einen DSL-Anschluss mit Router für alle, dazu für jeden Computer-Hardware sowie weitere Abonnements für Video- und Musikdienste. In Summe sicher mehr als 200€ pro Monat.
Würde jetzt ernsthaft jemand der deutschen Telekom, Lenovo und Apple vorwerfen, sie machten „das mit der Telekommunikation so geschickt, wenn man das einmal nutzen würde, käme man nicht mehr raus?“ Oder werfen wir Daimler, dem Erfinder des Autos, vor, wir könnten nicht mehr zurück zu den Pferden? Oder RWE und EON, wegen ihnen wüssten wir nicht mehr, wie sich ein Lagerfeuer anfühlt?
Nein, das tun wir nicht, weil wir wissen: Natürlich können wir zurück zum Festnetzanschluss, zum Pferd und zum Lagerfeuer. Nur wir wollen es nicht. Wir wollen es nicht, weil das Leben mit Handy, Auto und Strom schöner, bequemer, integrierter, schneller und innovativer ist.
Gibt es jetzt ein Problem oder nicht?
David Heinemeier-Hansson hat uns eindrucksvoll gezeigt, dass man die Public Cloud sehr schnell verlassen kann. DeepL hat in Island eine eigene Private Cloud gebaut, denn eigene Hardware ist für diese Art der AI häufig deutlich günstiger als die Public Cloud. Facebook hat eigene Infrastrukturen, Booking.com ebenfalls. Was ist allen diesen Unternehmen gemein? Sie haben ziemlich viel Know-how von IT. Technologie ist ihr Kerngeschäft, deren Top-ManagerInnen haben Ahnung von Technologie, sie ziehen Technologie-ExpertInnen an wie Licht die Motten (Gregor Hohpe hat auch einmal bei der Allianz gearbeitet).
Das erste Problem nun ist: Jene Führungskräfte, die behaupten, man käme nicht wieder heraus aus der Public Cloud, haben entweder keine Ahnung oder es fehlt ihnen der Wille. Und die Führungskräfte, die sich darüber beschweren, dass Hyperscaler ihre Oligopol-Situation nutzen, um die Preise zu erhöhen, leben immer noch in einer Zeit, in der IT beschafft wurde wie DinA4-Papier oder Strom. Damals, als man noch Lieferanten mit einfachen Mengenausschreibungen kujonieren konnte. Nur leider leben wir in einer Zeit, in der Technologie das Werkzeug zur eigenen Wettbewerbsfähigkeit ist, und die eigene Technologiekompetenz zum Flaschenhals im digitalen Überleben wird.
Das zweite Problem ist: Wir haben in Deutschland und Europa keinen eigenen Hyperscaler. Drei der fünf wertvollsten Unternehmen der Welt sind Hyperscaler (oder besitzen einen). Wir Europäer haben die digitale Infrastruktur unserer Konzerne aus der Hand gegeben. Wir zahlen eine Digitalsteuer nach Seattle und Kalifornien für jede Transaktion, die unsere Perlen LVMH, Renault oder Siemens irgendwo auf der Welt tätigen.
Technologie als Schlüssel zum Wohlstand
Die Ministerialperson also hatte Recht in ihrer Aussage, aber Unrecht in der dieser Aussage zugrundeliegenden Haltung. Wir sollten Hyperscaler nicht als Übeltäter oder als Bedrohung sehen, sondern als Vorbilder. Den großen Cloud-Ökosystemen gelingt es nämlich, dank Verständnis für die Bedürfnisse ihrer Kunden und intelligenter Anwendung von Technologie, zu „hyperskalieren“.
Volkswirte würden sagen: Clouds erhöhen die gesamtwirtschaftliche Produktivität. Sie erzeugen mit wenig Input viel Output und helfen ihren Kunden, genau das gleiche zu tun. Und diese Steigerung der Produktivität ist es, die uns als Land und Kontinent Wohlstand und Wachstum bescheren. Nur noch mehr Wohlstand und Wachstum gäbe es, wenn die Gewinne der Hyperscaler auch in Europa blieben.
Wir von cloud ahead starten mit diesem Artikel eine Serie zum Thema "Abhängigkeit in der IT". Damit möchten wir das Thema differenziert und unparteiisch durchleuchten, sowie Wege aufzeigen, sich aus ungewünschten Abhängigkeiten herauszuarbeiten. Möchten Sie beitragen in Form von Inhalten oder Interviews? Melden Sie sich gerne unter Kontakt.