In Europa bewegt sich etwas. Wir entwickeln Impfstoffe in Rekordgeschwindigkeit, die Autoindustrie investiert Milliarden in Elektroautos und binnen weniger Monate haben wir uns befreit von der Abhängigkeit von russischem Gas. Was ist allen diesen Beispielen gemein? Es gab extremen und kurzfristigen Druck. Das alte Gleichgewicht aus Anforderungen, Lösungen, Akteuren und Regeln wurde durch externe Kräfte disruptiert. Beim Impfstoff war es die Seuche, bei den E-Autos die Herausforderung durch den Autobauer Tesla und beim russischen Gas der Krieg in der Ukraine.
Eingespielte Systeme sind überaus stabil
Wie aber läuft es normalerweise? Die über Jahrzehnte eingespielten Systeme aus Anbietern und Nachfragern sind stabil, alle Beteiligten haben es sich gemütlich eingerichtet. Gut beobachten lässt sich das Verhalten eingespielter Systeme bei der aktuellen Debatte zur Umstellung des Molekül-basierten Energieverbrauchs (Gas, Öl, Benzin und Diesel) auf Elektronen-basierten Energieverbrauch (Wärmepumpen, Elektroautos, -LKWs und -Busse). Die Investitionen ganzer Branchen (Erdölförderer, Autozulieferer, Tankstellen, Gasheizungen, …) sind optimiert auf das aktuelle Equilibrium, genauso sind es die Kunden mit ihren Verbrenner-LKWs und -Autos und Gasheizungen. Keiner der Beteiligten hat ein unmittelbares Interesse an einer grundlegenden Veränderung. Denn diese würde Investitionen in unbekannte Technologien und Geschäftsfelder bedeuten und hohe kurzfristige Kosten und Risiken mitbringen.
Gerät ein solches System unter Druck, bekämpft es raffiniert die Innovation. Die Akteure schließen sich zusammen (wie hier die eFuels-Alliance) und kreieren Lösungen, die nicht wirklich falsch sind, aber auch nicht am Status Quo rütteln.
Zerstörung ist notwendig, damit Neuordnung stattfinden kann
Der amerikanische Professor Clayton Christensen hat viele Unternehmen beim Festhalten am alten Gleichgewicht beobachtet und dazu das Buch „The Innovator's Dilemma“ geschrieben. IBM hielt zu lange am Mainframe-Computer fest und kehrte nie zurück zu seiner alten Vormachtstellung im Computer-Geschäft, Kodak ging gemeinsam mit der Analogfotografie unter, Nokia verpasste den Zug in die Welt der Smartphones. Unternehmen, die sich dem Wandel versagten, gingen unter. Die Welt aber drehte sich weiter und erreichte mit neuen Akteuren wieder stabile Gleichgewichte.
Der Urvater der Idee, der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter, hat das Muster schon vor 100 Jahren beschrieben: „Durch eine Neukombination von Produktionsfaktoren, die sich erfolgreich durchsetzt, werden alte Strukturen verdrängt und schließlich zerstört. Die Zerstörung ist also notwendig – und nicht etwa ein Systemfehler –, damit Neuordnung stattfinden kann.“
Kann die deutsche Bürokratie untergehen?
Die deutsche Bürokratie hat unbestritten den Anschluss verpasst an die digitale Welt. Es gibt keinen sinnvollen inhaltlichen Grund, warum Deutschlands digitale Services so viel schlechter sind als bspw. jene in Estland. Würden für deutsche Bürger die Gesetze des Marktes gelten, dann könnten wir dem deutschen Staat kündigen (persönlich und analog im Bürgeramt natürlich) und unsere Steuererklärung digital in Estland machen, estnische Pässe nutzen, estnische Online-Unternehmen gründen und in Estland Steuern zahlen. Dann drohte der deutschen Bürokratie die Disruption und wir wären ähnlich schnell durchdigitalisiert wie der Corona-Impfstoff entwickelt wurde.
Von Markt-Mechanismen nur leider lassen sich Behörden nur schwer unter Druck setzen. Wem also könnte diese Aufgabe zufallen?
Die preußischen Reformen als Vorbild
Eigentlich müssten diese Aufgabe Deutschlands Politiker übernehmen. Es gibt sogar ein historisches Beispiel, an dem wir uns orientieren könnten. Im Jahr 1807 begannen die zwei preußischen Minister Karl Freiherr vom Stein und Karl August von Hardenberg mit umfassenden Reformen und leiteten den Wandeln Preußens vom Agrar- zum Industriestaat ein.
Es wäre eine solche „digitale Revolution von oben“ nötig. Deutschen Digitalministern würde Ruhm und Ehre winken, posthum würde man Straßen und Schulen nach ihnen benennen, Denkmäler auf Plätzen errichten. Traue ich deutschen Digitalpolitikern dies zu? Ich bin da eher skeptisch, aus zweierlei Gründen.
Grund 1: Digital-Kompetenz lernt man nicht bei der Parteikarriere
Die Aufgabe der Top-Entscheider in der digitalen Welt ist nicht einfach. Eine Behörde wirklich zu digitalisieren, würde Veränderungen in allen Bereichen dieser Organisation bedeuten. Wenn aus Fachverfahren digitale Software-Produkte werden sollen, muss die Behörde sich auf die Best Practices der Software-Welt einstellen. Die fachlich besten BeamtInnen zum Thema Energiepauschale müssten Hand-in-Hand mit Software-EntwicklerInnen, Betriebs-ExpertInnen und GrafikerInnen in einem interdisziplinären DevOps-Team zusammenarbeiten. Es gäbe Product Owner in Behörden, welche das Nutzungsverhalten der BürgerInnen analysierten und dann mit dem nächsten Update neue grafische Nutzeroberflächen deployen. Die meisten Rollen einer Behörde blieben auch in der digitalen Welt bestehen, die Art und Weise aber wie sie arbeiten und hierarchisch angeordnet sind, würde sich radikal ändern.
Wie ein Politiker spricht, der eine fachliche Druckbetankung durchgemacht hat, zeigt ein Auftritt von Robert Habeck aus dem Sommer 2022. Er erklärt dort aufgebrachten Mitarbeitenden der Raffinerie in Schwedt, wie sich die Viskosität des russischen Erdöls (Minute 8:30) von anderen Sorten unterscheidet und welche technischen Maßnahmen nötig sind, den Fluss von alternativem Öl aus Polen sicherzustellen.
Mein Traum ist ein deutscher Digitalpolitiker, der vor aufgebrachten IT-LeiterInnen von Behörden steht, ihnen die Notwendigkeit von IT-Konsolidierung erläutert und ihren gellenden Pfiffen die Vorteile bürgernaher DevOps-Teams entgegenschreit. Die Redebeiträge deutscher Digitalpolitiker aber klingen eher nach einer Mischung aus MetapherGPT und Bullshit-Bingo: Gaia-X wird zum KI-Airbus, aus Cloud-Seen wird eine Seenplatte und SAP baut eine Europa-Cloud für nachhaltige und resiliente Nutzungsszenarien.
Grund 2: Zu sehr für die Sache kämpfen macht die Karriere kaputt
Ein Politiker, der sich ernsthaft der Digitalisierung Deutschlands verschreibt, würde auf dem Weg dorthin zum Kanonenfutter der Social-Media-Algorithmen werden. Im Laufe der Transformation von Behörden und Fachverfahren käme es unweigerlich zum Verlust von Privilegien, der Beamtenbund ginge auf die Barrikaden. Vielleicht würden auf dem Weg dahin auch in manchen Fällen die Public Clouds genutzt (Datenschutz!). Vielleicht verändern sich gar Zuständigkeiten zwischen Ländern und Bund (Verfassungsänderung!). Die eine oder andere technische Transformation hin zu einer Cloud-nativen Software-Architektur würde teuer werden (Bundesrechnungshof!) und sicher würde auf dem Weg dahin auch einmal eine technische Schwachstelle offenbart (BSI!). Das kann nur schiefgehen.
Jede negative Schlagzeile würde als Beweis der Unfähigkeit dieses Politikers dienen. Die „offene Fehlerkultur“ der Digitalwelt, das schnelle Lernen und Korrigieren („Fail-Fast-Learn-Fast“) der DevOps-Teams, das sind nicht die Paradigmen der Social-Media-getriebenen Politikerwelt.
Gibt es noch Hoffnung?
Hoffnung gibt es immer. Den wohl disruptivesten Akteur im Schumpeter´schen Sinne könnte Donald Trump abgeben. Würde er wiedergewählt und verböte er aus einer Laune heraus Sicherheitsupdates von VMware, dann hätten wir einen Ukraine/Corona-Moment der Digitalpolitik. Zur Erklärung: VMware ist eine amerikanische Rechenzentrums-Software, die in praktisch allen deutschen Behörden und vielen deutschen Unternehmen die Basis für deren Private Clouds bietet. Ohne Updates dieses Schlüsseltools der alten, deutschen IT-Welt hätten wir etwa 6 Monate Zeit, uns eine alternative Lösung zu suchen und aufzubauen.
Freilich ist dieses Szenario nicht realistisch. Denn europäische Institutionen müssten zu Recht davon ausgehen, dass Trump weitere US-Softwares blockiert und in der Folge vorsorglich auf praktisch jegliche US-IT verzichten. Auf diese Weise bekämen die USA mittelfristig europäische Konkurrenz. Zudem würden sie ohne Not praktisch alle Hebel für „theoretisch mögliche“ Überwachungsprogramme verlieren.
Demografie und Cyberattacken
Die wohl realistischere Disruption der deutschen Bürokratie kommt von woanders. Cyberattacken nehmen ständig zu, Organisationen mit eigener IT müssen immer mehr Aufwand treiben, ihre Infrastrukturen und Softwares abzusichern. Mehr Aufwand bedeutet, mehr und besser ausgebildetes Personal. Unsere Behörden aber haben jetzt schon ein massives Demografieproblem. Immer mehr Beamte gehen in Rente, immer weniger jüngere Menschen kommen nach. Es gibt in Zukunft praktisch keine Menschen mehr, um die alte Behörden-IT mit ihren alten Prozessen aufrecht zuhalten.
Um diese abstrakte Information einmal mit Zahlen zu unterfüttern: Ein effizient entwickeltes und betriebenes Fachverfahren kostet 6 Millionen Euro über 3 Jahre (Corona-Warn-App in Finnland). Das Gleiche nach deutschen Vorgaben und Methoden entwickelte System kostete etwa 220 Millionen Euro. Der größte Kostenblock bei solchen Produkten ist normalerweise das Personal. Mit moderner IT wäre also in Deutschlands Behörden in etwa ein Produktivitätssprung mit dem Faktor >30 möglich. Wer einerseits die Ineffizienz deutsch-föderaler IT-Welt kennt und andererseits die Produktivität eingespielter DevOps-Team erfahren hat, der ahnt: Da könnte sogar noch mehr drin sein.
Auf welchen Zeitraum allerdings müssen wir uns einstellen, bis Demografie und Cyberattacken die heutige Behörden-IT disruptiert haben? Ich vermute, es wird noch etwa 10 Jahre dauern, bis diese Erkenntnis bis zu den politischen und behördlichen Führungsriegen durchgesickert ist, und weitere 10 Jahre, bis wir Bürger erste positive Effekte spüren werden. Da bin ich dann aber schon fast in Rente.