7 Gründe warum sich Deutschlands Digitalisierung noch weiter verzögert

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13.11.2023
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Letzte Woche war ich auf der Smart Country Konferenz in Berlin. Dort traf sich die Elite der deutschen Verwaltungsdigitalisierung wie Nancy Faeser, Cem Özdemir und Klara Geywitz. Sogar der Microsoft-Vordenker Brad Smith war dabei. 

Die Vibes waren positiv, überall geht es voran. Alle wollen in die Cloud, alle bauen an einer oder mehreren. Die Zusammenarbeit ist super (Pia Karger), inzwischen sind wir sogar auf Platz 4 in Europa (Ralf Wintergerst), in zwei Jahren wird man den Fortschritt wirklich merken (Stefan Richter).

Ich aber hatte ein diffuses Störgefühl. Scheint nun der Knoten geplatzt bei der deutschen Verwaltungsdigitalisierung? Beim Nachdenken kamen mir 7 Punkte, die dagegensprechen.

1. Die ChefInnen wollen es nicht wirklich

Digitalisierung rüttelt am Kern einer Organisation. Es geht nicht darum, die Zeitung in ein PDF zu wandeln und das Umblättern zu animieren. Es geht darum, die eigene Organisation neu zu denken. Wie ändert sich meine Aufgabe als Organisation im Kontext mit meinen Stakeholdern? Welchen Funktion und welchen Prozess brauche ich noch? Welche Teams muss ich zusammenlegen? Welche Rolle benötigt welche Macht? Welche Skills brauchen meine Menschen.

Wenn ChefInnen es nicht wirklich wollen, dann digitalisieren ein paar wenige ExpertInnen im Rahmen ihres Zuständigkeitsgebiets. Dann wird die Warteschlange digital, aber sie wird nicht abgeschafft (siehe Berlin). Wenn der ChefInnen es nicht wirklich wollen, haben sie auch keine Chance, sich auf dem Weg das notwendige Sachwissen anzueignen.

Echte Digitalisierung also geht nur, wenn ChefInnen Interesse und Willen zeigen, ihre Organisation durch das Klein-Klein von Technologie-Entscheidungen, Produkt-Strategie, Zuständigkeitsdebatten, Phantomlösungen und Scheinargumenten zu führen. Das geht schwer nebenher, neben Parteiwahlkampf, eFuel-Scheindebatten, Genderdebatten und Twitter-Tiraden.

Sehe ich diesen Willen? Letzte Woche zum ersten Mal ein bisschen bei Justizminister Marco Buschmann. Habe ich ihn schon einmal beim Digitalminister gesehen? Bei Olaf Scholz? Hm …

2. Das Digitalisierungs-Know-how ist nicht vorhanden

Von der digitalen Transformation auf LinkedIn zu erzählen ist einfach: Alle treffen sich in einem fancy Meetingraum, der Chef trägt Sneakers und das Team klebt Post-Its an die Wand.

Eine Organisation aber aus ihren eingeübten Mustern, Denkweisen und Best Practices zu überführen in ein Konstrukt, das digitale Produkte produziert, die von ihren NutzerInnen geschätzt werden, eine andere Sache. Es bedarf IT-KollegInnen, welche die IT selbst digitalisieren (das ist die Cloud). Es bedarf FachexpertInnen, die bereit sind, Verantwortung für digitale Produkte zu übernehmen, auch wenn sie eigentlich EpidemiologInnen oder FinanzwirtInnen sind. Und es bedarf ManagerInnen, die keine Angst vor dem mit der Digitalisierung einhergehenden Machtverlust der Hierarchie haben. Die mit Menschen reden, zielorientiert aber geduldig die vielen Dilemmata auf dem Weg auflösen, Skillgaps erkennen und den Know-how-Aufbau steuern.

Traue ich das dem aktuellen System „Verwaltung“ zu? Viele Führungskräfte dort sind JuristInnen und/oder haben eine lange Karriere in genau jenem, nicht-digitalen System gemacht. Sie können die notwendigen Skills weder in ihrer Ausbildung noch innerhalb genau jenes Systems gelernt haben, das sie reformieren müssten. Outsider gelangen in die Verwaltung häufig über den Pfad der Politik (siehe Andrea Nahles oder Arne Schönbohm). Aber ich befürchte, dass die Ochsentour der Parteikarriere nicht unbedingt die Basics digitaler Produktorganisationen lehrt.

3. Behörden können am freien Arbeitsmarkt nicht bestehen

In dem Bewusstsein, dass Schlüsselkompetenzen fehlen, könnten Behörden sich am Arbeitsmarkt bedienen. Behörden haben Purpose, sind sichere Arbeitgeber, ihre Bezahlstrukturen sind transparent, es gibt Teilzeit, geregelte Arbeitszeiten. Da müssten ihnen die DigitalisierungsexpertInnen doch die Tür einrennen!?

Natürlich nicht, begabte Cloud-ArchitektInnen verdienen bei Microsoft et. al. mit Anfang 30 mehr als die Top-Führungskraft einer Behörde. Und welche DigitalisierungsexpertInnen haben ernsthaft Angst, sie würden in Zukunft keine Arbeit finden?

Traue ich also den Behörden zu, im Wettbewerb um Fachkräfte zu bestehen? Nur wenn sie ihre Talente selbst ausbilden und halten. Wie lange wird es dauern, bis sich die Ausbildung von JuristInnen und VerwaltungsfachwirtInnen an den Leitideen der Digitalisierung orientiert? Und wie lange wird es dauern, bis diese neuen Talente in Machtpositionen sind? Sicher mehr als 2 Jahre …

4. Das Ökosystem kann nicht helfen

Ich erinnere mich gut an die Untergangsstimmung in der deutschen Autoindustrie in den 1990ern. Damals hieß es: VW, BMW und Mercedes haben keine Chance gegen GM, Ford und Toyota. Schlüssel für den Erfolg in der Branche sei die Unternehmensgröße und hier wären die Deutschen hoffnungslos unterlegen.

Die Untergangs-Propheten aber hatten ihre Rechnung ohne das starke Ökosystem der deutschen Automobilwirtschaft gemacht. Zulieferer und Autohersteller sparten ein, innovierten und verteilten ihre Aufgaben neu. Volkswagen stieg auf zum zeitweilig größten Autohersteller der Welt und kaum ein anderes Unternehmen verdiente mehr je Auto als Mercedes und BMW.

Gleichsam könnte die deutsche Digitalindustrie den Behörden helfen einen Sprung in die Zukunft zu machen. Nur besteht das deutsch-digitale Ökosystem im Wesentlichen aus drei Arten von Akteuren: US-amerikanischen Groß-Unternehmen, deutschen Dinosauriern und lokalen Miniplayern.

Erstere haben durchaus sinnvolle Vorschläge, wie zum Beispiel Cloud-Native-Transformation basierend auf Hyperscalern (führen uns aber in eine noch stärkere, geopolitische Abhängigkeit.) Letztere sind klein oder super-klein und hängen allzu häufig gemeinwohlorientierten Träumereien hinterher (die sie daran hindern, die nächste Technologiewelle zu finanzieren). Und die deutschen Digitaldinos (sorry SAP und T-Systems) haben selbst kaum Ahnung von Digitalisierung. Oder warum hat die Corona-App in Deutschland 220 M€ gekostet und in Finnland nur 5M€?

5. Die Kultur der Behörden ist nicht gemacht für Digitalisierung

Ein Meilenstein in der digitalen Transformation jeder Organisation ist die Erkenntnis, dass Wasserfall bei der Entwicklung von Software völlig versagt.

Ich hatte einmal ein C-Level-Meeting, bei dem ich sowohl von meinen KollegInnen als auch von den Chefs gezwungen wurde, ein Softwareprojekt nach Wasserfall zu kalkulieren. Also habe ich im Board-Meeting beide Vorgehensweisen gleichermaßen vorgestellt. Wir haben 50 Minuten die Wasserfall-Variante diskutiert und in der 51. habe ich gesagt: „Verbindlich ist aber die Agile-Variante.“ Die dann folgende Rolle des Sündenbocks musste ich nur kurz ertragen: die KollegInnen waren gezwungen, eine zentrale Annahme ihrer Wasserfall-Kalkulation schon nach 4 Tagen selbst zu revidieren.

Warum erzähle ich diese Geschichte? Wer digitalisiert braucht einen klaren Nordstern. Bei allem anderen gilt: Früh eine erste funktionsfähige Version des Produktes erstellen, den NutzerInnen zuhören, gut die eigenen Ressourcen priorisieren und flexibel weiterentwickeln. Wer bei dieser Unsicherheit immer wieder in den Wasserfall-Reflex zurückfällt kann gleich beim Papier bleiben.

Traue ich den deutschen Behörden diesen Kulturwandel zu? In Einzelfällen ja (siehe Interview mit Harald Joos), aber in der Breite wird es zum Umdenken noch viele gescheiterte Projekte benötigen.

6. Alle haben Angst - vor Presse und Bundesrechnungshof

Ein Leitsatz der Digitalisierung ist „Fail fast, learn fast“. Die Idee dahinter ist es, Software lieber häufig mit kleinen Updates zu versehen, statt viele neue Features zu sammeln und diese alle zwei Jahre auszurollen. Der Vorteil: Kleine Updates führen, wenn sie fehlerhaft sind, zu kleineren Schäden, die sich auch noch schneller beheben lassen.

Erwähnt man das Konzept „Fail Fast“ aber bei Behördenmitarbeitenden oder Politikschaffenden, dann sieht blitzt Angst in ihren Augen auf. Die Angst vor einem Skandal in der Presse und die Angst vor dem Bundesrechnungshof. 

Software aber enthält immer Fehler und erfolgreiche Software bedeutet praktisch immer: Teile wegwerfen und neu bauen. Um trotzdem beide Risiken zu reduzieren, werden Planungsrunden gedreht, weitere Experten hinzugezogen und Abstimmungsrunden einberufen. Das Ergebnis ist dann „Fail Late, Fail Expensively, Learn Never“. Genau das, was man durch weitere Planung, Analysen und Experten eigentlich verhindern wollte.

Wird sich die deutsche Verwaltung von diesen Ängsten lösen können? Ich glaube kaum, und sie ist um Rechnungshof und Presse wahrlich nicht zu beneiden.

7. Das Problem ist nicht groß genug

Herausforderung 7 ist eine Art Joker, der alle anderen Probleme lösen könnte. Denn: In Organisationen, ob privat oder öffentlich, bewegt sich wirklich etwas, wenn es ein für (1) jeden verständliches, (2) großes Problem gibt, das (3) alle unmittelbar betrifft und für das es (4) funktionierende Lösungen gibt.

Ein Beispiel hierfür war die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas zu Beginn des Ukraine-Krieges. Alle haben das Problem verstanden (kein Gas mehr), das Problem war groß (kalter Winter) und alle sind betroffen (Politik, Wirtschaft und Bürger). Diese seltene Einigkeit ermöglichte es, dass alle den existierenden (wenngleich unperfekten) Lösungen zustimmten. Die Grünen kauften Gas in Katar, die Ämter bearbeiteten Anträge für Gasterminals schnell und der Bundesrechnungshof hielt die Klappe.

Das Digitalisierungs-Problem ist zwar einfach verständlich und betrifft uns alle gleichermaßen. Aber es ist nie groß genug: 6 Monate auf einen Termin im Bürgeramt zu warten ist lediglich nervig. Noch schwieriger: Die Lösungen, die es gibt, funktionieren zwar, aber sie sind leider nicht sehr allgemeinverständlich.

Würde uns ein zukünftiger, erratischer US-Präsident die Public Cloud (oder VMware) abstellen, dann würde ein Digitalisierungs-Ruck durch Europa gehen. Politiker würden beginnen, sich für die Details von Software-Architekturen zu interessieren (vgl. hier Habecks Einarbeitung in Erdöl-Viskosität). Europa würde um seine Diaspora lebenden Helden der Digitalisierung werben (etwa Werner Vogels, Tobias Lütke oder Gregor Hohpe) und ihnen Geld und Handlungspielraum geben. Aus Not würden kleine Unternehmen (siehe ScaleUp oder Metalstack) große Aufträge bekommen, die Nachfrage nach dem Sovereign Cloud Stack würde explodieren. Deutschland dürfte etwas wagen, ohne Angst vor Fehlern haben zu müssen. Aber wollen wir wirklich auf eine solche Situation hoffen? 

Es gibt dennoch Hoffnung

Mein Beitrag scheint kategorisch negativ. Aber es gibt auch Licht.

Digitalisierung ist keine Aufgabe wie die Bekämpfung des Klimawandels. Das 1,5-Grad-Ziel kann nur eingehalten werden, wenn wirklich alle Länder mitmachen, alle Industrien ihre Wertschöpfungsketten dekarbonisieren und alle Konsumenten ihr Verhalten anpassen. Nur dann und in ferner Zukunft, würde sich die Zunahme der globalen Erwärmung verlangsamen.

In der Digitalisierung aber lassen sich Erfolge viel einfacher erreichen. DeepL benötigte weniger als 1 mio. € Investitionen und 20 Mitarbeitende, um eine AI zur Übersetzung von 16 Sprachen zu entwickeln. Instagram benötigte 8 Mitarbeitende um 20 Millionen NutzerInnen zu gewinnen. Es gibt unzählig viele Beispiele für echte Digitalisierung, die in kleinem Maßstab beginnt: Innus Banking, Midjourney, Aleph Alpha, Celonis, …

Auch wenn ich eine Flasche Champagner wette, dass sich die Digitalisierung Deutschlands in der Breite noch um Jahrzehnte verzögern wird: Willigen PolitikerInnen und digitalaffinen Behörden-Leitenden steht nichts wirklich im Weg, um wunderbare, digitale Produkte zu bauen, die ihre BürgerInnen lieben und die Welt zu einem besseren Ort machen.  

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