3 Maßnahmen, wie Deutschland wirklich souverän werden könnte

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22.05.2024
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7 min Lesedauer
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Im Tagesspiegel konstatierte die neue BSI-Chefin Claudia Plattner: „Wir verwechseln Souveränität oft mit Autarkie.“ In der Tat, das ist die Rede hier auf diesem Blog seit mehreren Jahren.

Den definitorischen Meilenstein hierzu lieferte der Bitkom schon 2015. Zusammengefasst heißt es dort: Autarkie ist die volle Kontrolle über die gesamte Wertschöpfung, auch um den Preis des Verzichts auf bessere Leistung. Souveränität hingegen ist die Fähigkeit, selbstbestimmt zwischen Eigenleistung und Zukauf zu entscheiden zwecks Optimierung von Leistungsfähigkeit UND Kontrolle. Ein Unternehmen, das auf M365 und VMware setzt, könnte also dennoch souverän sein, so lange es versteht, sich aus deren Umarmung zu befreien, und es dann auch tut, wenn Preiserhöhungen maßlos werden.

Die Stammtischdebatte zum US-Handelskrieg 

Die Begriffe also sind klar. Wie souverän ist Deutschland nun? Die Antwort ist: Gar nicht. Wir sind digital leistungsunfähig. Weder können wir unseren BürgerInnen direkt Geld überweisen noch vorhandene staatliche Leistungen in einem zentralen Portal BürgerInnen-zentriert zusammenführen. Auch fehlt es dem deutschen Staat an Kontrolle an allen Ecken und Enden. Landkreise, Schulen, Parteien und Parlament werden gehackt. Die etwa 180 Rechenzentren der Bundesverwaltung sind Großabnehmer der US-Giganten VMware, Oracle, Cisco und Microsoft. Als Krönung der digitalen Abhängigkeit beginnt nun auch noch die Reise in die Public Clouds der amerikanischen Hyperscaler.

Wenn ich – fernab des freundlich polierten LinkedIn-Feeds – mit Menschen beim Bier zusammensitze, kommt schnell eine spezielle Frage auf: „Was passiert denn, wenn uns der nächste US-Präsident die Cloud abstellt?“ Das schließlich machten die Amerikaner nicht zum ersten Mal. So tat es der letzte Trump 2019 mit der Adobe Cloud für Venezuela, und so geschah es unter Biden mit GitHub in Russland.

Die Stammtisch-Lösung ist einfach: „Wir brauchen mehr Open Source“. Der deutsche Staat solle in seinen Ausschreibungen darauf bestehen. Auf diesem Wege könne er nicht nur Kosten sparen, sondern auch endlich die Kontrolle über die deutsche Verwaltungs-IT zurückgewinnen.

Digitale Autarkie wäre schrecklich

Die KollegInnen vom Stammtisch haben bei dieser Debatte vor allem die prominenten Beispiele VMware und Microsoft vor Augen. Ersteres könnte wohl zu etwa 95% durch die Open-Source-Konkurrenz Proxmox ersetzt werden. An offenen Alternativen zu M365 wiederum versuchen sich OpenDesk und Nextcloud

Nur konsequente digitale Autarkie beträfe nicht nur IT-Infrastruktur und nicht nur die Public Cloud. Es ginge um die ganze Netzwirtschaft, welche die Digitalisierung der letzten Jahrzehnte geschaffen hat. Bild 1 (aus dem Jahre 2015) gibt einen groben Hinweis, wie es unter der Oberfläche eines durchschnittlichen deutschen Unternehmens aussieht: Datenbanken, CRM- und ERP-Systeme, Miro, Fotodienste und Banking-as-a-Service-Provider. Praktisch jeder dieser Services wäre ein digitales Faustpfand der USA in einem Handelskrieg.

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Bild 1: Internationale Abhängigkeiten der Netzwirtschaft (Quelle).

Der Erfolg dieser Netzwirtschaft liegt in der Natur von Software: Kleine Teams können hoch-spezialisierte Services erstellen und diese einfach globalen Kunden verkaufen. Die Einbindung erfolgt schnell und unkompliziert via API oder mit einer intuitiven, grafischen Oberfläche. Die „Ausbindung“ aber ist eine Qual: Wie bekomme ich Notizen der letzten 10 Jahre aus Miro und OneNote auf OpenDesk? Wie die 30 Jahre alte Geschäftslogik aus Stored Procedures in Oracle-Datenbanken nach MySQL? Die dezentrale Natur der Netzwerke schafft das Paradies der Leistungsfähigkeit, aber den Albtraum der Kontrolle.

Es wird noch schlimmer: Digitale Souveränität benötigen wir nicht nur auf den üblichen Ebenen der IT. Die Deutsche Akademie der Technik-Wissenschaften hat es in Bild 2 schön herausgearbeitet: es geht auch um Kommunikationsinfrastruktur wie transatlantische Netze, digitalen Komponenten wie Chips und Rohmaterialien wie Silizium.

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Bild 2: 8 Ebenen der digitalen Souveränität nach Acatech.

Die Auflösung der Gas-Abhängigkeit zu Russland war ein Kinderspiel im Vergleich zum Ansinnen, digitale Autarkie zu erreichen.

Europa kennt Handelskriege mit den USA

Wenig bekannt am Digital-Stammtisch hingegen ist die Tatsache, dass Handelskriege mit den USA für Europa nichts Neues sind. 2018 etwa verhängte Donald Trump Einfuhrzölle auf Stahl und Aluminium europäischer Hersteller. Die EU antwortete mit Aufschlägen auf Whiskey, Levi´s Jeans und Harley Davidson. Im Zuge der Corona-Krise dann lagen sich die USA, Großbritannien und Europa wegen der Impfstoffproduktion in den Haaren. Aktuell geraten vor allem die Unternehmen ASML und Zeiss ins Kreuzfeuer des Chip-Krieges zwischen China und den Vereinigten Staaten.

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Bild 3: Europäische Routine bei Handelskonflikten mit den USA.

Was ist das Muster dieser Konflikte? Abhängigkeiten werden genutzt, um eigene Interessen durchzusetzen. Mit anderen Abhängigkeiten schlägt die Gegenseite zurück. Wenn Du mich ärgerst, dann ärgere ich zurück. Wenn Du meine Stahlfirmen ärgerst, ärgere ich die Vorzeigemarken Deines Wahlkreises. Wenn Du mir keine Chips mehr lieferst, liefere ich Dir keine Chipmaschinen mehr. Bezogen auf die IT ist Deutschlands größter Trumpf die SAP: Wenn Du uns die Cloud abstellst, stellen wir Dir die Buchhaltung ab.

Wenn es also darum geht, Deutschland und Europa vor IT-Handelskriegen zu schützen, dann ist Open Source nur eine theoretische Lösung. Denn in der Praxis wird es uns nicht gelingen, die digital-internationale Netzwirtschaft so zu entflechten, dass in der kompletten IT-Wertschöpfung vom Bodenschatz bis zum Payment-Dienstleister kein digitales Faustpfand nicht-europäischer Akteure mehr übrigbleibt.

Mehr Trümpfe gegen Trump

Was aber könnte helfen, Handelskriege mit den USA oder anderen globalen Akteuren zu vermeiden? Was könnte uns helfen, Handelskriege, die wir nicht vermeiden können, zu gewinnen? Was würde Europa tatsächlich digital souveräner machen?

Ich glaube, Europa muss vor allem an drei Fronten arbeiten:

1.       Mehr Open Source

Natürlich hat die Open-Source-Fraktion Recht. Jede VMware-Installation, die ich durch Proxmox oder SCS ersetze, ist eine Abhängigkeit weniger. Jede Behörde, die von M365 zu OpenDesk wechselt, kann ein bisschen weniger zum geopolitischen Spielball werden.

Nur bleiben wir realistisch: ein paar Trümpfe weniger im Blatt der USA schmerzen die Digitalsupermacht kein bisschen.

2.       Mehr globale Digitalunternehmen aus Europa

Was Europa benötigt sind eigene Trümpfe. Wir brauchen Unternehmen, die den globalen, digitalen Alltag bestimmen. Wir brauchen mehr SAPs, eigene Hyperscaler, eigene Tiktoks, europäische Softwares, welche die Welt vermissen würde. Richtig klebrige Software, bei der die Fortune-500-Unternehmen ihre Lobby-Bataillone nach Washington schicken, wenn sie nur daran denken, dass sie ein Migrationsprojekt zu Open Source machen müssten.

Das ist jetzt alles nicht edel und gut, aber Länder haben keine Freunde, sondern Interessen. In diesem Spiel kann Europa nicht nicht mitspielen.

3.       Mehr lokale Wertschöpfung globaler Digitalunternehmen

Ein weiterer Joker wird zudem unterschätzt: Wertschöpfung globaler Digitalplayer in Europa. Wenn die Chips in Europa hergestellt werden, kann Europa im Falle des Handelskriegs auch deren Ausfuhr beschränken. Wenn die globale Cloud in Europa durch Europäer betrieben wird, kann sie nicht einfach als Joker genutzt werden. Aber auch jeder in Europa ansässige Software-Entwickler für US-Unternehmen kann im Falle eines Handelskriegs Gold wert sein. Wenn Trump AWS abstellt, dann deployen eben die AWS-EntwicklerInnen aus Dresden keine Software mehr für AWS in den USA.

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Bild 4: Maßnahmen für echte digitale Souveränität in Europa.

Der Stammtisch also muss umdenken. Wenn wir digital souverän werden wollen, ist Open Source sicher wichtig, aber leider nicht hinreichend. Europa benötigt im Spiel der Mächte eigene, fette Digital-Trümpfe.  

Kleine Fortschritte gibt es

Die einigermaßen hoffnungsfrohe Nachricht ist: An allen drei Fronten sehe ich kleine Fortschritte.

Deutschland investiert etwas mehr und etwas systematischer in Open Source. Der Sovereign Cloud Stack hilft insbesondere dabei, Abhängigkeiten bei Cloud-Schlüsseltechnologien zu lösen. Der Sovereign Tech Fund kümmert sich um Kontroll-Probleme im Ameisenhaufen der globalen Open-Source-Community („Random Person in Nebraska“). Das Zentrum für digitale Souveränität wiederum widmet sich den Schlüsselsoftwares am behördlichen IT-Arbeitsplatz.

Ein bisschen auch geht es voran beim Aufbau von europäischen Digitalplayern. Evroc versucht sich an einem Hyperscaler. Die Venture-Capital-Investitionen legten 2023 in Europa deutlich mehr zu, als in den USA oder in China. Die Bundesregierung versucht sich an einer Verbesserung des Kapitalzugangs für Start-Up Firmen.

Europa versucht zudem, globale IT-Schlüsselfirmen zur lokalen Produktion zu überreden. Medial gerühmt werden vor allem die Bemühungen um eine Wiederansiedlung der Chip-Industrie in Dresden, Magdeburg und Grenoble sowie die lokalisierten Versionen der US-Clouds wie AWS Sovereign Cloud und Oracle Cloud. Weniger bekannt aber ist: Auch globale Schlüsseltechnologien von AWS werden in Deutschland entwickelt.

Was würde Europa wirklich souverän machen?

Bei allem Zweckoptimismus macht mir vor allem die Buchhalter-Attitüde vieler europäischer Top-ManagerInnen und reicher Investoren Sorgen. Zwei Fälle engstirniger Kurzfristdenke sind mir besonders in Erinnerung: Vor 20 Jahren wunderte sich einer jener Investoren darüber, dass Amazon sich nicht ausschließlich auf den Verkauf von Büchern konzentrieren wollte. Vor 10 Jahren dann wiederum machte sich ein Top-Manager über Amazon lustig, weil es immer noch keinen einzigen Euro EBIT produziert hätte.

Was Europa also wirklich souverän machen würde? Eine neue Generation von UnternehmerInnen mit einer an den Paradigmen der Digitalwirtschaft angepassten Wachstumsdenke. Diesen müssten wir so viel Wagnis-Kapital hinterherwerfen, bis zumindest ein Viertel der Knotenpunkte der globalen Netzwirtschaft aus Europa kommen.

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